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12. July 2002, 18:18   #10
tw_24
 
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Ich bin ja nun auch ein Dorfkind, das mittlerweile allerdings manche Vorteile des Großstadtlebens sehr zu schätzen weiß und mit anderen Problemen zu leben gelernt hat, aber manchmal verirre ich mich doch noch in jenes Dorf in Ostthüringen, nicht zuletzt wegen meiner Eltern. Rein äußerlich sieht es schon besser aus als das, was der nationale und der antifaschistische Sozialismus schafften. Doch im Detail wird es schwierig, nicht wieder nach irgendeiner starken Hand zu rufen.

Es gibt, beinahe noch ein Lichtblick, in dem Dörfchen nicht wenige Jugendliche, für die man auch die Schule sanierte, die sie dann auch an Vormittagen besuchen. Doch nach dem Mittag kommt bekanntlich der Nachmittag, und da willen er auch beschäftigt werden, der pubertierende Nachwuchs - die Gemeinde tat was sie konnte und spendierte einen "Jugendclub". Für qualifizierte Betreuer (Pädagogen, irgendwie diplomierte Jugendfreizeitbetreuer, keine Ahnung, ob es ein solches Berufsbild gibt) indes fehlt das Geld, und der "Jugendclub" hat zwar auch ein schmuckes Schild, auf dem eben jenes Wort zu lesen ist, doch das war es dann auch schon. Zwei, drei Räume, in einem immerhin eine Tischtennisplatte, sonst nur Sitzgelegenheiten vom Sperrmüll. Und "betreut" wird die Jugend nun von völlig fachfremden ABM-Kräften, die, wie gesagt, alles andere als qualifiziert sind. Motiviert sind sie zweifellos - aber das vergeht schnell.

Für irgendwie sinnvolle Beschäftigungen - meinetwegen Kochkurse, Bastelnachmittage oder was auch immer - gibt es von der Gemeinde kein Geld, und aus eigener Tasche können ABM-ler derartige Aktivitäten auch kaum - und ernsthaft verlangen kann man das von ihnen ja auch nicht. Und so beschränkt sich die "Jugendclub-Arbeit" darauf, daß die jeweils anwesende ABM-Kraft einmal einfach nur da ist, und eventuell noch als eine Art Imbiß-Kraft fungiert, denn einer dieser neumodischen ;-) Sandwich-Maker gehört zur sagenhaften Ausstattung des "Jugendclubs". Für die Sandwiches bezahlen die Jugendlichen ein paar Cents - oder auch nicht, denn es wird angeschrieben. Getränke aus dem ca. 800 Meter entfernten Supermarkt gibt es auch, die Cola-Büchse kostet im "Jugendclub" ein paar Cents mehr, damit aus einer "Club-Kasse" mögliche Club-Veranstaltungen finanziert werden können, wobei allerdings höchsten mal ein Grillabend herauskommen dürfte. Doch für die "Club-Kasse" gibt es gemeindeseitig nicht einmal eine sichere Verwahrmöglichkeit, und ein Dutzend nikotinabhängige Jugendliche brauchen immer Automaten-Geld ...

Nach außen hat das Dörflein einen "Jugendclub", feiert sich damit möglicherweise sogar in Berichten an das Land, aber in der Realität ist da eigentlich nichts. Nichts jedenfalls, das Jugendliche fördern oder fordern würde. Immerhin, eine Art SkateBoard-Rampe bauten sich die Vernachlässigten quasi in Eigeninitiative, doch leider am falschen Ort (eine brachliegende Lagerhalle), sie wurde höchstamtlich wieder abgerissen, weil wohl selbst Grundstücke, für die sich einfach niemand interessiert (und interessieren wird), unter Naturschutz stehen.

In einer solchen Umgebung wächst nun zumindest die dörfliche Jugend heran - wirkliche Freizeitangebote gibt es nicht, in dem Alibi-"Jugendclub" versammelt sich denn auch nur noch ein Clique besonders bedauernswerter Nachwuchs-Verlierer, die vor nichts mehr Achtung hat, was dann auch die ABM-Leute entweder resignierend erdulden und ignorieren oder gleich kündigen. Noch vorhandene Sitzmöbel werden mit Feuerzeugen "bearbeitet", die "Club-Kasse" regelmäßig geklaut, und einmal großzügig gespendete Porzellanteller überlebten kaum drei Tage. Dieser Scherbenhaufen wurde von den ABM-lern weggefegt, den Scherbenhaufen, den diese Art der "Jugendbetreuung" - oder besser: -vernachlässigung - hinterläßt, müssen nicht nur die jugendlichen Betroffenen ausbaden, sondern - stürzen sich erst einmal Radikale auf sie - die jeweiligen menschlichen Feindbilder.

Auch wenn die offizielle Politik immer beteuert, "die Jugend" sei Deutschlands Zukunft, zumindest auf der lokalen Ebene scheint davon nicht viel anzukommen. Schule ist noch nicht alles, und wenn das einzige Freizeitangebot ein "Jugendclub" ist, der eigentlich nur Sitzplatz mit Dach ist, sonst aber nur noch die Kneipe lockt, dann ist das Ergebnis dieser Politik beinahe schon vorprogrammiert - un(ter)-qualifiziertes Futter für die Arbeitslosenstatistik, das eher rechten als linken Bauernfängern hinterherrennt, denn auf die unheimlich angenehme und einigende Opferrolle verstehen sich die rechten Propagandisten doch noch etwas besser als ihre linke Konkurrenz.

Ich weiß nun nicht, wie das in anderen, westdeutschen Dorfgemeinschaften aussieht, für den mitteldeutschen dörflichen Osten aber dürfte die Situation ähnlich sein. Zu den erlebten existentiellen Ängsten der Eltern kommt für die Jugendlichen die Erfahrung hinzu, daß eigentlich niemand sie haben will, weil sie einen Kostenfaktor darstellen - egal, ob das nun eine Bewerbung um einen Ausbildungsplatz ist oder halt das simple Freizeitangebot, das nur in hohlen Phrasen auf dem Papier existiert. Wenn das dann in zerstörerischer Wut auch auf Ausländer endet, ist das beinahe schon nachvollziehbar.

In (Groß-) Städten ist die Lage etwas besser. Neben kirchlichen Freizeitangeboten gibt es neben dem kläglichen Angebot der jeweiligen Stadt auch noch mehr oder weniger aktive Jugendorganisationen der verschiedenen Parteien, die mit vielfältigen Angeboten locken, dabei aber sicher auch nicht uneigennützig handeln müssen, doch es gibt sie einfach, die (sinnvollen) Beschäftigungsmöglichkeiten, die beim Rhetorikkurs beginnen, Gottes Gebote erklären oder mit Marx und Engels dessen Nichtexistenz nachweisen und mit gespendeten Digicams Filmemacher fördern.

Doch diese Jugendarbeit ist meist privater, interessengeleiteter Natur, was traurig ist, zugleich aber auch einen Lichtblick darstellt, denn sie macht deutlich, daß Jugendliche eben nicht Ballast oder gar gesellschaftlicher "Abfall" sind.

Was ist dem Staat die Jugend wert? Offiziell nicht viel, was sich dann eben in "national befreiten Zonen" äußert. Jugendliche werden als Last empfunden, als Kostenfaktor - und abgeschrieben. Da muß am Ende nicht einmal eine NPD oder andere extremistische Partei daherkommen, würde man ihnen ein paar Ausländer zum Frustabbau vorsetzen, sie würden die Gelegenheit wohl nutzen. Zum Teil ist Radikalismus nichts als die logische Folge der sozialen Marktwirtschaft, die gerade in Neufünfland manchmal alles andere als sozial ist.

MfG
tw_24, der sich mal wieder für die Ausführlichkeit seiner Ausführungen entschuldigen muß