Thema: Naher Osten
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15. July 2002, 10:03   #1
Pumawoman
 
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Naher Osten


Bethlehem ist eine Geisterstadt. Nur das dumpfe Dröhnen der Hubschrauber ist zu hören. Ab und zu wird es vom hellen Rattern der Maschinengewehre unterbrochen. Die Häuser sind verbarrikadiert. Niemand setzt seinen Fuß vor die Tür. Im Minutentakt brausen israelische Militärfahrzeuge durch die Straßen: Panzer und Jeeps.

Die ersten Gefangenen der flächendeckenden Razzien werden freigelassen. In kleinen Gruppen passieren sie den israelischen Checkpoint und bewegen sich Richtung Krankenhaus. Hier befindet sich der Treffpunkt, der auch inoffizielle Kontakte zwischen der israelischen Armee und der Zivilbevölkerung ermöglicht. Hier warten auch
die freiwilligen internationalen „Schutzschilder“, die im Vertrauen auf ihre Nationalität – die meisten sind Amerikaner – die Rettungswagen bei ihren Fahrten zu schützen versuchen. Einer von ihnen hat Mari mit ihrem Sohn George zum Spital geleitet. Der Bub hat hohes Fieber. Die Mutter ist verzweifelt. Tränen stehen in ihren Augen. „Ich halte diesen Druck nicht mehr aus. Wir sind Gefangene in unseren Häusern.“


Gesperrte Stadt Offiziell haben Journalisten in Bethlehem keinen Zutritt. Trotzdem ist es NEWS gelungen, einen Fahrer für den gefährlichen Weg durch die Stadt zu finden. Vor dem Krankenhaus treffen wir den
28-jährigen Junis Salahed, der nach 48 Stunden Haft freiging. Er trägt noch seinen Pyjama: „Ich wurde in der Nacht aus dem Bett geholt. Sie fesselten mich und verbanden mir die Augen. Dann sperrten sie mich in einen Raum mit 100 anderen und verhörten mich immer wieder.“


Friedhof Ramallah Für 200 tote Palästinenser fällt das Märtyrer-Begräbnis aus. Die Kühlaggregate des Krankenhauses von Ramallah sind defekt. Als der Leichengeruch unerträglich wird, müssen die Toten auf dem großen Parkplatz vor dem Gebäude verscharrt werden. Zwei frische Gräberreihen ziehen sich an seinem Rand entlang. „Sechs“, konstatiert der Portier trocken, während er auf einen Erdhügel zeigt. „Und sieben liegen hier“, deutet er auf das nächste Grab.


Blutige Bilanz Woche zwei der „Operation Schutzschild“: Im Westjordanland sind eine halbe Million Zivilisten ins Schussfeld zwischen palästinensischen Kämpfern, Terroristen und der israelischen Armee geraten. Die Flüchtlingslager sind nicht einmal für die Hilfskonvois der UNO erreichbar. In den umkämpften palästinensischen Städten fallen Strom- und Wasserversorgung immer wieder aus. Die medizinische Versorgung ist weitgehend zusammengebrochen.

„Das Schlimmste ist nicht der Mangel an Nahrung, Wasser oder Strom“, erklärt Hosni al-Asari, Chef des Spitals in Ramallah, „es sind die Stunden, in denen wir uns nicht bewegen können. Wir haben Angst vor Scharfschützen. Und vor der Willkür des Krieges. Es gibt keine Kontrolle mehr.“ Und kaum noch Hoffnung. „Wir haben uns gegenseitig schachmatt gesetzt“, resigniert der palästinensische Journalist Jamil Hamad. „Keiner kann gewinnen.“


Bilanz eines Einsatzes Die Israelis sehen das anders. „Die Operation ist ein voller Erfolg“, behauptet der israelische Kabinettsminister Matan Vilnai im Gespräch mit NEWS. „Jeder dritte der 1.500 verhafteten Palästinenser stand auf der Fahndungsliste.“ Unter den Toten befinden sich jene sechs Hamas-Aktivisten, die als Drahtzieher der jüngsten Bombenanschläge gelten. Stolz zieht der Minister Bilanz: „1.330 Gewehre und andere Schusswaffen sowie 30 Kilo Sprengstoff haben wir bei Hausdurchsuchungen gefunden. Und eine Bombenfabrik wurde ausgehoben.“ Danach präsentiert er Belege für die Verbindungen zwischen Arafats Fatah und der Terrorszene. Ein Brief des palästinensischen Geheimdienstes über die „Operationen in Tulkarem“ ist darunter. Das Dokument scheint zu belegen, dass Mitwisser der Attentate im Vorzimmer Jassir Arafats saßen.


Unter Zeitdruck Trotz dieser „Erfolge“ gerät der israelische Premier Ariel Sharon immer mehr unter Zeitdruck. Die Operation „Schutzwall“ ist für mindestens sechs Wochen angesetzt. So viel Zeit wäre notwendig, um Stadt für Stadt zu durchsuchen und „vom Terror zu säubern“. „Erst wenn wir damit fertig sind, können wir abziehen“, stellt Sharon fest. Der Besuchstermin des amerikanischen Außenministers Colin Powell setzt ihn unter Zeitdruck. Also versucht er, in höchster Eile vollendete Tatsachen zu schaffen, in der verbleibenden Zeit für möglichst viele Verhaftungen und niedergewalzte Bombenfabriken zu sorgen.

Washington reagiert auf diese Taktik mit zunehmender Ungeduld. „Wenn wir ein Ende der Kampagne fordern, dann meinen wir jetzt – und jetzt ist jetzt“, lässt sich George W. Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice lautstark vernehmen. Aber auch sie weiß, dass von beiden Seiten Unerfüllbares gefordert wird: Dass ein isolierter Arafat den Terror stoppen kann, um die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand zu schaffen, wird von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Immerhin hat Premier Sharon ihm gestattet, vier Plästinenserführer zu empfangen. Auf der anderen Seite glauben die Israelis, ihre Aktion „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ nicht vorzeitig abbrechen zu können. Shaul Mofaz, Stabschef der israelischen Armee, betont im Gespräch mit NEWS: „Nach unserem Anti-Terror-Krieg darf es in den Palästinensergebieten keine Rückkehr zum Status quo geben. Der Terror muss aufhören.“ Nach seinen Vorstellungen wird es nicht einmal mehr eine Palästinenserbehörde geben. Funktionsfähig ist sie längst nicht mehr. Arafats Hauptquartier ist von Panzern umstellt. Die Einrichtungen seiner Autonomiebehörde bestehen nur noch aus Ruinen.
Aus Rücksicht auf die Amerikaner tut Israel wenigstens so, als würde es einlenken. Vor laufender Kamera verkündet Sharon den Rückzug aus Tulkarem und Kalkilya. Eine Geste ohne Bedeutung: Die Arbeit ist getan. Ohne öffentliche Verlautbarung erfolgt gleichzeitig die Besetzung von Dora im Westjordanland.


Zivilisten als Opfer Minister Vilnai will nur „bedauerliche Einzelfälle“ zugeben. „Fast jeder Palästinenser starb mit einem Gewehr in der Hand“, behauptet er. „Wir gehen sehr langsam vor, um das Leben der Bevölkerung zu schonen.“ Palästinensische Augenzeugen wollen anderes gesehen haben. Aus Bethlehem berichtet ein Frau, israelische Truppen hätten sich den Weg freigeschossen und dabei unter anderem zwei Kinder getötet.

Hamas-Kämpfer im Flüchtlingslager bei der Stadt Jenin drohen mit weiterem Terror. Die Bombengürtel lägen bereit. „Wir werden uns als lebende Bomben auf die israelischen Truppen stürzen“, kündigen sie über Mobiltelefon an.


Protest für den Frieden Der Zutritt zu den Zonen der israelischen Anti-Terror-Kampagne ist offiziell nicht erlaubt. Diesem Gebot trotzen einige Dutzend europäische Friedensaktivisten, die seit Ostern in den Krisengebieten ausharren. KPÖ-Chef Walter Baier hat sich der Initiative für zwei Tage angeschlossen. Auf Schleichwegen erreichte er Ramallah. „Wir haben dringend benötigte Medikamente gebracht“, berichtet er. Ziel der „Friedensaktivisten“ sei es, durch ihre Präsenz die Zivilbevölkerung zu schützen. Der Zutritt zum Hauptquartier des gefangenen Präsidenten war dem österreichischen KP-Chef nicht möglich: „Das ist wie eine Festung.“


Zweite Front Die Empörung über die Behandlung des Palästinenser-Präsidenten geht weit über den Kreis der Globalisierungsgegner hinaus. In Marokko, Ägypten, Syrien und im Iran wächst mit jedem Tag die Zahl der Demonstranten. Gefährlich ist die Zuspitzung im Libanon. An dieser Front könnte sich der israelisch-palästinensische Konflikt zu einem regionalen Flächenbrand auswachsen. Die libanesische Hisbollah-Miliz nimmt seit zwei Wochen die nördliche Grenzregion Israels mit Katjuscha-Raketen unter Beschuss. Shuki Shirur, der israelische Oberbefehlshaber für diesen Abschnitt, sieht Syrien hinter diesen Anschlägen. „Hier geht es nicht um die Unterstützung der Palästinenser, sondern um die Errichtung eines islamistischen Nahen Ostens mit Jerusalem als Hauptstadt.“

Petra Ramsauer aus Bethlehem und Ramallah n