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28. October 2002, 14:41   #17
tw_24
 
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Die Öffentlichkeitsarbeit der russischen Regierung bzw. Behörden ist miserabel, und die nach Boykottdrohungen aus Moskau von Kopenhagen nach Brüssel verlegte EU-Rußland Konferenz lädt auf fatale Weise dazu ein, das Verhalten der russischen Sicherheitskräfte bei der Erstürmung des Musical-Theaters zu kritisieren.

Dabei ist manche Kritik sicher angebracht, besonders das beharrliche Schweigen über die Zusammensetzung des eingesetzten Kampfgases, das vielen Geiseln statt der Befreiung den Tod brachte (und bringen wird?), verbietet es, von einem Erfolg zu sprechen.

Gerade der Einsatz von Gas ist dabei ein hochbrisantes Thema - internationales Recht verbietet dessen Einsatz mit der Ausnahme von Tränengas bei Demonstrationen, und auch die Forschung und Herstellung unterliegen strengen Restriktionen.

Es könnte also sein, daß die russischen Sicherheitskräfte sich eines illegalen Gases bedienten, dessen Vorhandensein sie damit zugleich offenbarten wie auch die Existenz einer entsprechenden Forschung, was belegen würde, daß auch Rußland sich nicht an einschlägige Abkommen zur Rüstungskontrolle hält - daher muß die russische Regierung geheimnisvoll schweigen, was - positiver Nebeneffekt? - die Spekulationen über jenes Gas anheizt, den Tschetschenienkonflikt, diesen schmutzigen Krieg, zugleich aber auch wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt.

Das läßt sich z.B. sehr schön an der Berichterstattung bei N24 zeigen: Am Samstag wurde beinahe stündlich dieser Krieg Rußlands gegen eine nach Unabhängigkeit strebende Republik bildreich thematisiert, am Sonntag dagegen wurde er nur noch erwähnt, und heute ist er schon wieder ganz aus den Schlagzeilen verschwunden - Deutschland hat schließlich zwei Helden zu feiern, die die versuchte Vergasung durch den Russen überlebt haben, welche - da bei mindestens hundert Geiseln offenbar gelungen - einen N24-Trottel schon veranlaßte, von einer "Fehlleistung" der russischen Sicherheitskräfte zu sprechen.

Es mag zynisch klingen, doch die ewigdeutschen Besserwisser, die sich Terrorismus-Experten nennen, schmieden aktuell schon wieder ganz prächtige Verschwörungstheorien zusammen, die sich gegen den Erbfeind im Osten richten, an dem man bisher militärisch noch immer scheiterte. Die Verbrechen in Tschetschenien, die jahrelang geduldet wurden, werden weiter bzw. wieder ignoriert, mit medialen Spekulationen über die Umstände der Erstürmung des Theaters aber langsam begonnen, Täter- und Opfer-Rolle zu vertauschen.

Der Russe hat etwas zu verbergen - natürlich -, der Krieg in oder gegen Tschetschenien ist ein Verbrechen - stimmt -, aber die Geiselnehmer waren, selbst wenn sie eine politische Forderung stellten, eben keine Befreiungskämpfer und die russischen Sicherheitskräfte in diesem Fall keine Verbrecher, wie das nun gelegentlich schon indirekt unterstellt wird.

Im Deutschlandfunk spricht man offen von "Hinrichtungen" und "Lügereien" durch die russischen Behörden, betont Ähnlichkeiten zur (Des-) Informationspolitik der KPdSU und formt so ein Bild der Vorgänge, das den Tatsachen so wenig entspricht wie die Darstellung der russischen Behörden.

Es fehlt im Grunde nur noch der offen ausgesprochene Satz 'Rußland ist doch selbst verantwortlich, weil ...!', um die kriminellen Geiselnehmer von jeder Verantwortung freizusprechen ...

Daß gerade die Geiselnehmerinnen mit ihrer Kleidung nicht gerade für eine Ordnung standen, die als fortschrittlich bezeichnet werden kann, fiel den wenigsten Experten auf.

Die Bildsprache war aber auch wirklich recht, hmm, obszön: Verschleierte (unterdrückte?) Frauen mit Pistolen (Emanzipation?) und wohl ewiglich auf olivgrüne Uniformen geile Männer in Macho-Pose - deutlicher waren die manifesten Widersprüche der Situation wohl kaum auf den Punkt zu bringen ... Und dann wollte man auch noch befreien, indem man Freiheit raubt ...

Die fleißigen deutschen Analysten jedenfalls stürzen sich verdächtig auffällig auf oder in das Gas, das ihnen erspart blieb, und sie rätseln, rätseln und vermuten, daß sie über ihren Schreibtisch gezogen werden, weshalb sie den Feind nicht etwa irgendwo in Tschetschenien vermuten, sondern im Kreml in Moskau.

Da stimmt dann ihr Weltbild wenigstens wieder.

MfG
tw_24