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28. October 2002, 14:48   #1
tw_24
 
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Info: Pflaster unter dem Strand

Pflaster unter dem Strand

Hermann L. Gremliza

»Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag,
Nun wird sich alles wenden.«
Ludwig Uhland

»Sind wir denn nirgends mehr sicher?«
»Bild«

Nichts geht über die sorgfältig elaborierte Analyse der materiellen Hintergründe, versteht sich. Zur Not hilft aber auch ein geübter Blick auf die Phänomene. Wie zum Beispiel auf dieses: Im Bayerischen Fernsehen zitiert einer der vier Terrorismus-Forscher bzw. -Experten, die eine Antje-Katrin Kühnemann am Tag nach dem Anschlag auf Bali um sich versammelt hat, eine Umfrage, nach der 79 Prozent der Kuwaitis und 80 Prozent der Ägypter Osama Bin Ladens AI-Qaida nicht für eine terroristische Organisation halten.

Die Erscheinung lehrt: Erstens ist der Terrorismus zu einer Einrichtung geworden, die bereits einen ordentlichen Berufsstand hervorgetrieben hat und bis in Pensionsalter durchzufüttern verspricht. Zweitens gilt der Terrorismus als Krankheit, weshalb die Sondersendung über den jüngsten Vorfall von jener Doktorin der Medizin geleitet wird, deren Spezialgebiet die öffentliche Behandlung des Blasenkatarrhs ist und die an diesem Abend eigentlich »Alarm im Krankenhaus: Ärzte dringend gesucht« auf dem Programm hatte. Drittens aber scheinen sogar die Bewohner jenes Staates, den amerikanische Truppen vor zehn Jahren von Saddam Husseins Soldateska befreit haben, mit den bösartigsten Feinden der USA zu sympathisieren.

Es muß nicht immer ein World Trade Center sein: In Moskau begräbt ein Wohnhaus die Bewohner unter sich, in Helsinki explodiert ein Kaufhaus, in Djerba detoniert ein Auto vor einer Synagoge, in Washington stirbt täglich ein Zivilist im Zielfeuer eines Unbekannten, in Tel Aviv verbluten Gäste einer Hochzeitsfeier, in Tschetscheniens Hauptstadt fliegt ein Polizeirevier in die Luft, in Kabul ein Minister, vor der Küste des Jemen trifft's einen französischen Öltanker, im Norden Kuwaits diesen und jenen Gl, auf Bali australische und deutsche Touristen.

Die meisten Täter, aber nicht alle, sind Muslime, und ob die Religion ihr Handeln bestimmt, ist nicht so ausgemacht, wie mancher Aufklärer meint. Der Islam ist gewiß, wie das Christentum, eine besonders widerwärtige Religion, aus beider heiligen Schriften ließen und lassen sich Rechtfertigungen der übelsten Greueltaten herauslesen. (Aber auch aus Goethes Faust wäre mit ein wenig Geschick die Anleitung zu einem Massenmord zu exzerpieren.) Der Sache näher kommt die Parole, der Terror richte sich »gegen unsere Zivilisation« bzw. »die westliche Lebensweise«.

Des Rätsels richtige, wenngleich sehr pauschale Lösung ist, daß jede der Taten, die unter die Rubrik Terror fallen, sich gegen die herrschende Weltordnung richtet - aus guten wie aus schlechten, ökonomischen wie politischen, religiösen wie psychotischen Motiven, apart oder wild gemischt.

Die Ordnung der Welt zeichnet sich dadurch aus, daß in ihr die Zuteilung der Güter ein für allemal festgelegt erscheint. Eine Minderheit, Weiße des Nordens die meisten, besitzt alles: Geld, Nahrung, Gesundheit, Wasser, Kleidung - die Massen des Südens nichts. Die wenigen natürlichen Güter, auf denen manche sitzen (Bananen, Kaffee, Öl), werden ihnen vom sogenannten Weltmarkt zu Preisen abgenommen, gegen welche die Bezahlung mit Glasperlen, die frühere Kolonialisten übten, fair erscheint. Und der Graben zwischen den Reichen und den Armen wird, wie übrigens auch im weißen Norden selbst, jedes Jahr ein Stück tiefer.

Die Lage ist zum Verrücktwerden, dort wie hier, und dort wie hier werden es immer mehr. Eine Meldung am Tag nach dem Attentat auf Bali ging so: »Die Mordrate in Großbritannien ist auf dem höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen vor hundert Jahren. Im ersten Quartal 2002 hat die britische Polizei 885 Morde aufgenommen, 20 Prozent mehr als 1997.« Scotland Yard hat gut zu tun. Immer mehr Staaten des Südens aber verlieren die Kraft, das Gemeinwesen zu organisieren, werden - das Fach hat schon den Begriff - zu fading states. Entgegen dem Glaubensbekenntnis der Leitartikler ist es nämlich auch bei Staaten so, daß die Mittel die Verhältnisse bestimmen: Je reicher die Gesellschaft, desto ziviler der Staat (wer im Geld schwimmt, kann sich sogar eine bürgerliche Demokratie leisten), je kärglicher die Mittel, desto brutaler, autokratisch bis diktatorisch, der Staat, und wo gar nichts ist, löst die staatliche Ordnung sich in Banden auf. (Der Leitartikler übrigens hält, umgekehrt, den Reichtum für die Folge der Demokratie, aber dafür wird er ja bezahlt.)

Daß der Sieg des Kapitalismus auf überschaubare Zeit irreversibel erscheint, läßt sogar einige verzweifelte Kommunisten in ihm den letzten Hort jener Rechte und Freiheiten sehen, die er dem Rest der Welt bestreitet. In der Tat unterscheidet sich der neuere Terrorismus von dem der Vorwendezeit durch vollendete Hoffnungslosigkeit. Er verhält sich zu Emanzipation wie der Sozialneid zur Revolution: Was die einen nicht haben, soll den anderen wenigstens vergällt werden. Der Anschlag auf Bali, der »Insel der Götter«, sollte, sagten die Terrorexperten, erstens »unsere westliche Lebensweise« und zweitens den Tourismus, den weltweit größten Wirtschaftszweig treffen. Vor allem aber sei er ein Symbol. Wofür? Für nichts. Ein Symbol seiner selbst.

Gibt es, zwischen den Autoren einer verrückten Ordnung und den in ihr, an ihr verrückt Gewordenen, eine vernünftige Wahl? Zwischen dem Aktionär des Kaufhauses in Helsinki und dem Irren, der sich (und andere) darin umgebracht hat, gibt es sie nicht. Gibt es sie zwischen den beiden Kuwaitis, die beim Anschlag auf einen GI starben, und dem getöteten US-Soldaten, der bereit stand, zusammen mit seinen Kameraden einen Krieg zum Zwecke der Eroberung und langjährigen Besetzung des Irak sowie zur Enteignung seiner Ölvorräte zu beginnen? Die Wahl, die an dieser Stelle zwischen der israelischen Armee und der Hamas getroffen wurde, gibt jene nicht vor. Saddam Hussein zu hindern, jedes palästinensische Selbstmordattentat mit 25.000 Dollar zu belohnen, muß Bagdad nicht niedergebrannt werden. Saddam und Osama sind Antisemiten, wie übrigens die Saudis, die Teheraner und die Deutschen auch, aber wenn Henry Kissinger sagt, es gehe »um unser Öl« (und nicht etwa um Israel), durfte man ihm das schon im zweiten Golfkrieg glauben.

Bin Ladens Judenhaß ist, anders als der deutscher Möllemänner, Teil eines Hasses auf die westliche Welt und deren Herrschaft über den Rest. Er ist weit weniger religiös-fundamentalistisch als verrückt-antiimperialistisch. Daß das reichste Land des Nahen Ostens Juden gehört und der Zentralbankchef der USA Greenspan heißt, muß so einen auf dumme Gedanken bringen. Gesetzt, es gäbe Juden weder da noch dort - Bin Ladens Haß auf den Westen würde darunter nicht leiden. Das Wort Zirkulationssphäre ist ihm, ich wette, ganz fremd. Wie andererseits der »Krieg gegen den Terror« und um das irakische Öl nicht zum Schutz Israels geführt wird, sondern zur Verteidigung des Reichtums, den die herrschende Ordnung der Welt den Freiheitskriegern abwirft.

Also lautet der Beschluß: »Anders als im Kalten Krieg ist der Feind nicht Sicherheitspartner. Abschreckung und Verteidigung reichen nicht. Prävention und Präemption sind unausweichlich. Die großen Kriege des 21. Jahrhunderts kommen aus Asien. Machen wir uns zu Herren unserer Angst, gewinnen wir. Wenn nicht, nicht.« So sagt's Michael Stürmer, Historiker, vormals Berater von Kanzler Kohl. Und so wird's gemacht.

(Quelle: konkret 11/2002, S. 9.)

MfG
tw_24