Thema: Dystopia
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31. December 2002, 14:45   #1
Akareyon
 
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Dystopia

P R O L O G



Die, die das Virus überlebt hatten, starrten die Wolken an, als trügen sie ein Zeichen, oder als könnten ihre Blicke dem grauen Himmel Schmerz verursachen, so wie er ihnen. Obgleich das Grau kein anderes war als früher an grauen Novembertagen.

Früher.

Die Männer weinten, daß das Sterben an den Wolken lag, war offensichtlich. Die Lichter der Großen Stadt waren erloschen. Vorher hatten sie noch etwas gehört davon, daß es begonnen hätte, im Radio. Wer begonnen hatte, wußten sie nicht, es war ihnen auch egal, es gab keine rasch sich verbreitenden Gerüchte und Mutmaßungen mehr. Sie hatten keine Hoffnung mehr, also wozu hassen?

Unten, in den Bunkern, da saß die Angst unter ihnen in ihren mannigfaltigen Formen, die Kinder starrten blaß mit leeren Augen in die wenigen Petroleumfunzeln, die dämonische Schatten an die Wände zeichnete, wo diese irre psychedelisierend zitterten. Die Kinder selbst, sie zitterten nicht, sie verstanden ja noch nicht. Die jungen Männer und Frauen unterhielten sich, huschende Gespräche, Wortfetzen, als sei alles gesagt. Und die alten, sie waren oben geblieben, wollten nicht Nahrung und Platz und Atemluft ihnen nehmen, sie dachten an ihre Kinder, die vielleicht... das Sonnenlicht...

Es wurde dunkel, und es wurde weniger dunkel, immer im Wechsel, oben auf der Oberfläche. Tag wurde es nicht mehr. Einige, die noch nicht zu schwach waren, liefen umher, nicht zwischen Trümmern, die wütende Granaten und Bomben hinterlassen hatten, sondern in Straßen, die auf einmal leer waren. Als hätten die Menschen morgens vergessen, aufzustehen, doch auch in den Häusern war niemand.

Sie suchten nicht nach Schmuck und trugen auch keine Wertsachen aus den Häusern, in denen unbeachtet batteriebetriebene Alarmanlagen heulten. Nein, in Einkaufswagen und Kinderwagen sammelten sie Nahrung, und Wasser und Batterien und stellten sie so ab, daß die jungen aus den Bunkern sie leicht erreichen konnten. Manch einer brach dann entkräftet zusammen und wartete regungslos auf den Tod, andere rafften sich nocheinmal auf und begannen die Suche von neuem. Einmal noch, sagten sie sich, dieses eine Mal noch.


Hoch oben hörte man ein Flugzeug, ein Beobachtungsflugzeug vielleicht. Doch niemand rief um Hilfe, keiner sah nach oben, denn es war über der Wolkendecke; diese waren sicher, solange die Tanks voll waren. Bald würden sie landen müssen, um Kerosin zu tanken. Doch die Wolken, sie umpackten den Globus, eine unheimliche Sphäre des Todes, außerhalb derer die Überlebenswahrscheinlichkeiten weitaus höher waren.


Hoch oben, in der Raumstation, war Ruhe eingekehrt, ähnlich wie unten in den Bunkern der Kinder. Sie waren ebenfalls verurteilt, ohne Nachschub. Keine Nahrung, kein Wasser, keine Sauerstoffkerzen - nur für zwei weitere Monate, und die Shuttles standen unten in ihren Hangars, ihr Wartungspersonal und ihre Piloten längst schon tot. Der einst so blaue Planet war jetzt schmutzig weiß, ein einheitliches, helles Grau. Selbst die Winde schienen erstarrt, kein Hauch kräuselte kleine Wirbel in die Textur.

Und die Flugzeuge, sie sammelten sich, flogen Schleifen, um von den noch zahlreichen Tankflugzeugen Treibstoff aufzunehmen. Doch ihre Zeit aur auf Stunden begrenzt, bald stürzte ein Tankflugzeug ab und verging in einem brennenden Feuerball inmitten der Großen Stadt, und ihm folgten bald weitere Flugzeuge, sie verbrannten auf den Feldern und Bergen und in den Städten, ließen von denen, die noch Hoffnung zu leben hatten, nichts als geschmolzene Asche zurück.

Und auf der Raumstation, da nahm der Kommandant Schlaftabletten und starb, um seinen beiden Freunden mehr Nahrung und damit mehr Zeit zur Verfügung zu stellen, und sie legten seinen Körper in die Schleuse und sahen weg, als sein Zellwasser im Nichts zu sieden begann und das All ihn aufnahm.

Unten im Bunker, da hatten sie angefangen, sich zu töten, aus Angst, im Wahn oder vor Hunger. Sie hatten den Aufprall des Flugzeugs gehört und die Hitze, die unerträgliche Hitze gespürt, viele Stunden lang. Einige flüchteten den Wahnsinn, in die Abwasserkanäle der Städte. Zu früh, sie tranken das verdorbene Wasser, bald starben sie unter Krämpfen, als ihnen Haare und Zähne ausgefallen waren.

Und in den übriggebliebenen Bunkern derjenigen, die den Wahnsinn begonnen hatten, da erschossen sie sich gegenseitig, aus Unfrieden, im Streit ums Recht, aus Rache. Raketen bohrten sich tief in die Bunker und verbrannten alles Leben darin, doch es waren bereits Raketen in die andere Richtung gefeuert worden, und die Computer spielten verrückt, während die Lüftungsanlage sich ausschaltete.

Dann stieg das Wasser, denn unter der Wolkendecke wurde es warm, immer wärmer, und die Pole ergossen ihre gefrorenen Wasser über die Hafenstädte. Erst nur ein Glucksen an den Molen, doch bald reichte das Wasser bis tief ins Festland hinein, und neue Hafenstädte entstanden. Das kalte Wasser kämpfte mit der warmen Luft, und Stürme kamen, schlimmer als alles andere, und die Hochhäuser brachen unter der Kraft der Winde ein. Das Wasser und der Regen reinigten die Erde und die Luft. Doch die Umverteilung der Wassermassen hatte die Kontinentalplatten zerknetet, sie schüttelten sich, rieben sich gegeneinander, Volkane brachen auf, die Erde erzitterte gequält, atmete trocken, weinte, mochte das Weh nicht ertragen... Wasser floß in die Wunden der Kruste, verdampfte zischend in die Atmosphäre.

Das Wetter erstarrte. Die Erde sah anders aus, das Wasser hatte Meere gebildet dort, wo einst Städte gestanden hatten, und Inseln ragten der neuen Sonne entgegen dort, wo vorher nichts als das weite Meer gewesen war.

Die Menschen in den Bunkern waren tot, und auch die Raumstation hatte ihre Besatzung verloren, als diese, sich liebend, selbst getötet hatten. Niemand vermochte die Jahre zu nennen, die vergangen waren. Oben im Gebirge, wo man sich in den Höhlen und Tunnels verschanzt hatte, waren viele gestorben vor Hunger oder Durst.

Doch einige lebten, etwa fünfzig zählten sie, nachdem sie sich wieder getroffen hatten, draußen in der Luft. Und sie suchten nach Nahrung, sie wollten jagen und sammeln, und fertigten sich Waffen.