Es gibt aber auch viele Menschen die ihr Tier glücklich machen und auch glücklich sterben lassen
Schmerz
Träge blinzelte er in die schräg einfallende Sonne und zog sich tiefer zurück in den Schatten, den das Ding warf, unter dem er halb gelegen hatte. Schon seit langer Zeit war dies sein angestammter Platz. Noch als er ganz jung gewesen war, wurde ihm dieser Platz von seinem Alpha-Wesen angewiesen, und noch nie hatte ihm jemand aus seiner Meute ihm diesen streitig gemacht.
Manchmal, als er noch die Kraft besaß, auf den weich-schwarzen Felsen zu springen, der seltsamerweise nicht nach Stein roch, drängte er sich dicht an sein Alpha-Wesen, um seine Nähe zu spüren und ihm so seine Verbundenheit zu zeigen. Außerdem war da dieses angenehme Gefühl, das das Alpha-Wesen durch seine Berührungen hervorrief.
Natürlich wußte er, daß er anders war als die anderen Meutemitglieder. Er wunderte sich schon lange nicht mehr darüber, daß diese nur ihre Hinterläufe dazu benutzten um sich fortzubewegen, und mit ihren Vorderläufen stellten sie oft eigenartige Dinge an, die er nicht immer verstand.
Trotzdem liebte er sie und fühlte stets die tiefe Verbundenheit mit ihnen, wenn er sie in der Nähe wußte. Wenn sie abwesend waren, was früher häufig vorkam, fraß sich die Einsamkeit und die Sehnsucht nach ihnen beinahe wie ein körperlicher Schmerz in ihn hinein. Er war fast sicher, daß sich irgendein tieferer Sinn hinter ihrer Abwesenheit verbarg; aber er konnte ihn nie ergründen.
Überhaupt umgab seine Alpha-Wesen und die anderen ihrer Art ein sonderliches Geheimnis. Er verstand nicht, woher sie die Macht nahmen, diese vielen Dinge zu tun, die er wohl sah und manchmal auch verstand, die er aber nie selbst zustande bringen konnte. Wenn draußen, jenseits der scheinbar zur Starre geronnenen transparenten Luft, die Dunkelheit hereinbrach, berührten sie mit ihren Vorderläufen eine Stelle an der glatten Felswand der Wohnhöhle, und schon gingen in unbegreiflicher Schnelligkeit kleine Sonnen auf, die, während das Tageslicht noch schien, nur matt und grau in der Luft zu schweben schienen.
Und dieses andere Ding, das Krach machte und stank und in dem er immer im rückwärtigen Raum sitzen mußte, erschien ihm schier unbegreiflich. Immer, wenn er in diesem sonderbaren Ding saß, das sich fortbewegte und trotzdem über keinerlei Beine zu verfügen schien, sah er hinaus durch die kalte, geronnene Luft, sah andere, ähnliche Dinge, Geschöpfe, die seinen Alpha-Wesen glichen und auch Kreaturen seiner eigenen Art. Dann drängte ihn etwas in seinem tiefsten Innern, in ihre Richtung zu knurren.
Was ihm aber am sonderbarsten erschien, war die Tatsache, daß seine Alpha-Wesen im Gegensatz zu ihm kaum zu altern schienen. Natürlich roch er das Alter auch in ihren Leibern, denn ihre Ausdünstungen waren schwerer geworden, und auch ihre Stimmen besaßen einen rauheren Klang als damals. Dennoch bewegten sie sich kaum anders als vor vielen Wintern, waren immer noch sicher in all ihren Handlungen und schienen kaum von Schmerzen geplagt zu sein.
Seine eigenen Augen waren trübe geworden, und er erkannte sie nur noch an ihrem Geruch und an den charakteristischen Geräuschen, die ihre Schritte begleiteten.
Wenn sie diese eigenartig singenden Laute an ihn richteten, fiel es ihm in letzter Zeit immer schwerer, den darin verborgenen Sinn zu entschlüsseln. Auch seine Muskeln wurden immer schwächer, seine Knochen schmerzten, und auf den weichen, grünen Ebenen, über die er früher so gern gerannt war und seine Lebenslust laut herausgerufen hatte, war ihm jetzt nur noch ein langsames Trotten möglich.
Und irgendwann setzte dieser andere Schmerz ein, tief in seinem Leib, und schien ihn von innen her auszuhöhlen. Manchmal war die Intensität des Schmerzes so groß, daß er sich wimmernd am Boden wand und sich erbrach. Das männliche Alpha-Wesen, das ihm sonst keine Befleckung der Wohnhöhle erlaubte, nahm ihn dann auf seine Vorderläufe, rief die angenehmen Berührungen hervor und sang leise auf ihn ein, bis der Schmerz verging. Dann empfand er tiefe Dankbarkeit und er wußte, daß er seine Alpha-Wesen liebte und diese Liebe von ihnen erwidert wurde.
Er konnte darauf vertrauen, daß ihm seine Alpha-Wesen stets den Schmerz durch ihren Gesang nehmen würden.
Doch der Schmerz kam immer öfter, und auch die Besuche bei dem hellen Wesen häuften sich. Er mochte es nicht, dieses Wesen aufzusuchen. Der Geruch in der Wohnhöhle dieses Geschöpfes ängstigte ihn, denn neben den Duftspuren von anderen Vierbeinern und scharf riechender Flüssigkeit lag dort noch etwas anderes in der Luft, etwas, vor dem er immer Angst empfand und das ihn mit tiefer Unruhe erfüllte.
Irgendwann, als die Dämmerung jenseits der geronnenen Luft hereinbrach, kehrten die Alpha-Wesen in die Wohnhöhle zurück.
Er verdrängte die Träume von früheren Zeiten und schlug müde die Augen auf. Mühsam erhob er sich und tappte zitternd auf die Alpha-Wesen zu um ihnen seine Freude kundzutun, während tief in seinem Inneren schon wieder der Schmerz zu nagen begann. Die Alpha-Wesen knickten mit den Hinterläufen ein, um sich auf seine Höhe herabzulassen und riefen die angenehmen Berührungen hervor, während sie liebevoll auf ihn einsangen.
Doch irgend etwas in ihren Stimmen war anders als sonst, rauher, unmelodischer. Plötzlich nahm das weibliche Alpha-Wesen seinen Kopf in ihre Vorderpfoten und drückte ihn an sich. Nach Salz riechendes Wasser drang dabei aus ihren Augen und versickerte in seinem dichten, schwarzen Fell.
Er spürte, daß sie sich unwohl fühlte und leckte trostspendend über ihr Gesicht. Sie hörte auf zu singen und stieß schniefende, keuchende Laute aus. Dann sang das andere Alpha-Wesen zu ihm, und auch seine Stimme klang eigenartig.
Dann holte es die lange, rote Schnur hervor. Er wußte, was dies zu bedeuten hatte und zeigte erneut seine Freude. Noch einmal sang das weibliche Alpha-Wesen zu ihm. Dann verließ er mit dem männlichen Alpha-Wesen die warme Höhle.
*
Ihr Weg führte sie vorbei an unzähligen Außenseiten von Wohnhöhlen, unnatürlich kalten und kahlen Bäumen, die in der Dunkelheit ebenfalls kleine Sonnen scheinen ließen, und anderen vertrauten Dingen seines Reviers.
Unzählige Gerüche umspielten seine Nase. Begierig sog er sie in sich hinein. Kurz blieb er stehen und verinnerlichte die Neuigkeiten des Tages. Mit einem Male setzte der Schmerz mit der Hitze der kleinen Sonnen ein, ließ ihn wanken.
Schmerzvoll wimmernd fiel er zu Boden und rollte mit den Augen, die nur noch schemenhafte Bilder in seinen Kopf sandten.
Schwäche überfiel ihn und die Ahnung eines tiefen Schlafes.
Dann beugte sich das Alpha-Wesen über ihn und sang eindringlich auf ihn ein. Doch es nützte nichts, und auch die angenehmen Berührungen konnten den Schmerz nicht lindern. Doch er vertraute dem Alpha-Wesen, daß der Schmerz irgendwann vergehen würde.
Er fühlte sich emporgehoben und drängte sich schutzsuchend an die Brust des so andersartigen, aber doch geliebten Wesens. Irgendwann betraten sie die Wohnhöhle des hellen Wesens.
Obwohl der Schmerz ihm fast die Sinne raubte, spürte er doch, daß der Geruch des Anderen, das ihn immer so geängstigt hatte, diesmal deutlicher die Luft durchströmte.
Das helle Wesen sang wenige Laute mit dem Alpha-Wesen, dann wurde er auf das hohe, harte Ding gesetzt, das er so haßte. Irgendeine tiefe innere Angst überfiel ihn, die so stark war, daß der schreckliche Schmerz beinahe verdrängt wurde. Eng drückte er sich an das Alpha-Wesen, das mit seltsamem Ton auf ihn einsang.
Dann näherte sich das helle Wesen mit dem quälenden spitzen Ding. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich noch zu wehren, als das Ding ihn verletzte. Fest wurde er an sein Alpha-Wesen gedrängt, das immer noch sang.
Dann überkam ihn erneut die Sehnsucht nach Schlaf. Der Geruch des Anderen verstärkte sich. Der Schmerz verging, und langsam verlor er sich in dichter Dunkelheit. Und er wußte, daß das Alpha-Wesen den Schmerz von ihm genommen hatte.