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31. August 2005, 00:50   #1
Ben-99
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Fall "Jessica": Schwere Vorwürfe gegen den Hamburger Richter.

... und die erhebt nicht etwa irgendein Schmieren-Journalist, sondern es ist Gisela Friedrichsen, eine der renommiertesten deutschen Gerichts-Reporterinnen, die Nachfolgerin des inzwischen verstorbenen Gerhard Mauz,

http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Mauz

der jahrzehntelang - sogar für Feinde des SPIEGEL - als Maß aller Dinge galt, wenn es um kluge, gleichsam aber auch ausgewogene und vor allem auch immer "menschliche" Berichterstattung über Justiz-Verfahren ging, die uns zeigen, zu welchen Greueltaten "wir" fähig sind. Beide haben aber auch immer versucht, sich über die Gründe Gedanken zu machen und kamen nicht selten zu dem Schluß, daß fast immer auch die Täter eine Art "Opfer" sind.

Mauz und jetzt eben Friedrichsen waren und sind sozusagen das Gegenstück des Drecksjournalismus' der BILD-Zeitung, bei dem Angeklagte schon mal als "Fette Bestie" bezeichnet werden und auch sonst nicht selten mitunter auch nachweislich kranke Täter in einer Weise vorverurteilt werden, daß es zwar ständig Rügen durch den Deutschen Presserat hagelt. Aber solange die Prolls an den Stammtischen jubeln und mit solchen Storys Auflage gemacht werden kann, zahlt man dann auch gern ein paar Tausend Euro aus der Porto-Kasse. Schließlich versteht sich die BILD ja zur Zeit als "Kanzlerin-Macher-Zeitung" und hat schon dehalb langfristig nicht viel zu befürchten in einem "Neuen Deutschland", das immer korrupter wird.

Daß sich die SPIEGEL-Reporterin in den letzten Wochen gleich mehrfach für BILD (zum Fall "Türck") interviewen ließ, stieß mir zwar auch sauer auf, soll aber hier nicht das Thema sein.

Der Skandal besteht diesmal darin, daß die Vertreter der Öffentlichkeit gar nicht objektiv über den Fall "Jessica" berichten können, weil viele von ihnen aus rein technischen Gründen akustisch während des Verfahrens gar nichts mitbekommen und der Vorsitzende Richter unverschämterweise auch noch arrogant tönt: "Die Öffentlichkeit hat kein Recht darauf, alles zu verstehen und zu begreifen."

So wirkt es wie eine Farce, wie Gisela Friedrichsen diesmal nur schreiben kann, was sie vermutet und nicht von dem berichten kann, was sie als Reporterin während des Verfahrens mit eigenen Ohren hört.

Dabei ist trotzdem ein lesenswerter, wenngleich auch stellenweise bizarrer Artikel über ein zur Zeit spektakuläres Verfahren entstanden, das durch die Unprofessionalität eines Hamburger Richters noch mehr kompliziert wird. Ein paar Auszüge daraus:

Zitat:
Es ist nicht zu begreifen: Die meisten Kinder, so die bedrückende Statistik, die durch ein Gewaltverbrechen zu Tode kommen, sterben durch die Hand ihrer Eltern. Sie werden getreten, geschlagen, gequält, bis sie nicht mehr weiterleben können. Jessica, das siebenjährige Mädchen aus Hamburg-Jenfeld, das rund fünf Jahre seines kleinen Lebens in einem kalten, verdunkelten Kinderzimmer-Kerker dahinvegetieren musste, starb am 1. März, abgemagert auf 9,6 Kilogramm - und die ganze Stadt, ja das ganze Land waren entsetzt.

(...)

Der Tod von Jessica verstört. Er wühlt auf. Rachegefühle und Gewaltfantasien kommen auf. Das Verhalten von Menschen, ohnehin oft schwer verständlich, entzieht sich hier jeder schnellen, oberflächlichen Erklärung, es schreit nach böser Vergeltung. Nur in der langsamen, vorsichtigen Annäherung aber an Täter und Tat kann ein Bild gelingen, das Marlies S., 36, und Burkhard M., 49, gerecht wird und das der Vernunft Einblick gewährt in das Unbegreifliche: dass Menschen dem Sterben ihres Kindes untätig, gleichgültig, bisweilen vielleicht auch mit Hass gegen die eigene Tochter erfüllt zusehen können - ohne Bestien zu sein.

Die Öffentlichkeit hat Anspruch darauf zu erfahren, wie sich eine solche, jedermann aufwühlende Tat ereignen konnte, weil Jessicas Tod nicht nur Sache ihrer Eltern und deren Richtern ist. Er geht jeden Bürger dieses Landes an, der auch ein Recht hat zu erfahren, wie der Staat darauf reagiert. Doch nirgendwo, so scheint es, ist das so schwierig wie in Hamburg.

Daher ist die Öffentlichkeit zunächst einmal über die Hamburger Justiz zu informieren und darüber, dass es im Schwurgerichtssaal der Hansestadt nur 15 feste Plätze für Journalisten gibt. Nur wem es möglich ist, spätestens von 7 Uhr an vor dem Saal herumzulungern, ergattert einen davon. Der Rest hat sich hinter einer dicken Glaswand zu versammeln, wo selbst den Hellhörigsten nur Bruchteile von Wortfetzen erreichen.

Es ist auch darüber zu informieren, dass die Justizbehörden seit Jahren nicht in der Lage sind, in diesem Saal eine halbwegs ausreichende Mikrofonanlage zu installieren, ja, dass der Gedanke, ein paar Stühle mehr vor die Scheibe zu stellen, als undenkbar gilt. Für die Unterrichtung der Öffentlichkeit bedeutet dies, dass der Berichterstatter hinter der Scheibe entweder bei den Kollegen auf den Plätzen "in der ersten Klasse" abzuschreiben gezwungen ist - oder dass er sich etwas zusammenreimt, was einigermaßen authentisch klingt. "Die Öffentlichkeit", so der Vorsitzende Richter Gerhard Schaberg auf den Protest der akustisch ausgeschlossenen Zuhörer hin, "hat kein Recht darauf, alles zu verstehen und zu begreifen".

(...)

Marlies S. redet sehr leise. Etwas anderes war nicht zu erwarten. Welcher Angeklagte sagt schon mit fester Stimme: Ja, ich habe mein Kind verhungern lassen, ich habe mich nicht darum gekümmert, es war mir egal, ob es zugrunde geht. Dass sich der Vorsitzende im Lauf der Sitzung immer mehr den leisen Worten anpasst und das Mikrofon meidet - ebenfalls verständlich. Denn wie soll er sonst mit dieser von Weinen und Zagen geschüttelten Frau ins Gespräch kommen?

Ich hätte ihr gern zugehört, als sie von ihrer eigenen Mutter berichtete, die offenbar dem Alkohol verfallen war und fremde Männer ins Haus brachte. Die offensichtlich von ihrer Tochter nichts wissen wollte, dafür aber der "Onkel", von dem sich Marlies S. über zwei Jahre hinweg "betatscht" fühlte. Was war mit dem Vater? Und den Mitschülern, die vom Lebenswandel der Mutter offenbar wussten?

Wie wuchs Marlies S. auf? Besaß sie Spielzeug? Puppen? Etwas, das sie als schön empfand? Sie schüttelt den Kopf. Mit 13 kam sie zu einer Tante. Mit deren Kindern habe sie sich nicht verstanden. Warum nicht? Dann die erste Schwangerschaft, ungewollt, mit 21. Bis vier Wochen vor der Geburt hielt sie sie geheim. Der erste via Mikrofon verständliche Satz: "Ich wollte nicht wissen, dass ich schwanger bin." Deshalb sei sie auch spät erst zum Arzt gegangen.

(...)

Dann die Scheidung. Die Geburt Jessicas. Sie hatte auf eigene Faust versucht abzutreiben. "Ging schief." Immer wieder: "Keine Erinnerung." Der Vorsitzende fragt, ob für sie bedeutungslos werde, was längere Zeit zurückliege. "Ist schwer zusammenzufügen", die Antwort. Wortfetzen: Jessica "wollte nicht raus" an die frische Luft. "Sie hat sich quergestellt." Hat sie sich Gedanken gemacht, warum das Kind so reagierte? Nein. Sie sei mit dem Kind im Jahr 2000 ins Freie gegangen, "bis der Sommer begann aufzuhören".

(...)

Das Kind habe sich zurückgezogen und wieder in die Hose gemacht. "Richtig trocken war sie nie." Als die Beziehung zum Vater Jessicas in eine Krise geriet, habe sie das Kind auch alleingelassen, um in eine Kneipe zu gehen. In der letzten Zeit habe Jessica jegliche Nahrung zurückgewiesen. "Was, glauben Sie, haben Sie falsch gemacht", fragt der Vorsitzende. "Alles."

(...)

Ich hätte gern mehr über diese Angeklagte berichtet. Ich hätte gern versucht, ihr zuzuhören. Ich hätte gern ein wenig die Not dieser am Pranger des Abscheus stehenden Frau beschrieben und im Verständnis geworben, soweit dies überhaupt möglich ist. Denn ich glaube nicht, dass Marlies S. eine Bestie ist. Doch leider gehörte ich zu jenen, die kein Recht haben, "alles zu begreifen".

http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,372232,00.html
Gruß Ben