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24. June 2006, 22:56   #11
Ben-99
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... ich war die letzten Wochen aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse fast jeden Tag gezwungen, quer durch Hamburg mit der U-Bahn zu fahren, weil man für die Strecke zu dieser Zeit mit dem Auto fast doppelt so lange unterwegs sein würde. Es war also nichts mit meinem Vorhaben, während der Wochen der WM lieber die Parkbänke meines Stadtteils zu genießen und die Innenstadt und vor allem öffentliche Verkehrsmittel zu meiden.

Statt dessen saß ich nun ständig in einer überfüllten Bahn bzw. mußte sogar oft stehen und die Bierfahnen und den Schweiß von Leuten einatmen, die sich teilweise von Kopf bis Fuß in eine überdimensionale deutsche Fahne eingehüllt hatten und auch akustisch dafür sorgten, daß man sie weder übersieht noch überhört. Und ich mag nun mal nicht die körperliche Nähe fremder Menschen. Meist schloß ich während der Fahrt die Augen und versuchte, an andere Dinge zu denken, da ich mich in solchen Situationen vor Panik-Attacken fürchte, die ich auch tatsächlich schon mal, allerdings vor vielen Jahren, erlebt habe. Zur Not kann man sich auch vorher einen Tranquilizer reinziehen. Das tue ich zwar nicht, aber es ist trotzdem ein gutes Gefühl, wenn man weiß, daß man auf die Pillen zurückreifen könnte.

Zum Glück ist der Spuk auch meist bei der Station "Messehallen" vorbei, weil dort die Schwarz-Rot-Gelb-Gekleideten und wie Indianer in den selben Farben Geschminkten aussteigen, um auf dem Heiligengeistfeld, wo auch das Pauli-Stadion liegt, mit Tausenden Fußball-Begeisterten beim "Fifa-Fan-Fest" die Spiele auf einer Großleinwand zu verfolgen.

Im Prinzip habt Ihr recht, da auch ich bisher noch keine einzige bedrohliche Situation erlebt habe und die Leute wirklich alle sehr friedlich sind. Am Tag des Spiels gegen Polen sah ich allerdings keinen einzigen Fan, der mit einer polnischen Fahne unterwegs war, dabei leben eine ganze Menge von ihnen in Hamburg. War es nur Zufall? Oder ist es nicht wohl eher so, daß sich diese Landsleute einfach nicht trauen, auch ihren Patriotismus so offen zu zeigen? Wenn ja, sind wir Deutschen es, die sich mal überlegen sollten, warum das über 60 Jahre nach Kriegsende noch immer so ist.

Und einmal fuhr ich gerade die Rolltreppe hinab, als ich unten am Bahnsteig eine Gruppe Jugendlicher sah, die wie Bekloppte immer wieder "Deutschland, Deutschland" grölten und dazu ihre gigantischen, mehrere Meter langen Deutschland-Fahnen schwenkten. Ich dachte unwillkürlich an Aufmärsche im 3. Reich, und mir war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, mit diesen Leuten in einem Abteil sitzen zu müssen.

Doch als ich ihnen dann näher kam, sah ich, daß es sympathisch aussehende Schüler waren, die überhaupt nichts mit dem braunen Pack zu tun haben und von denen auch während der Fahrt nicht die geringste Gefahr ausging. Aber warum muß man heute solchen Jugendlichen schon wieder "antrainieren", daß es angeblich etwas Tolles sei, mit solchen Riesen-Fahren durch die Gegend zu ziehen und dabei ständig "Deutschland, Deutschland" zu grölen?

Bisher fühlte ich mich nur ein einziges Mal wirklich wohl auf meinem Platz in der U-Bahn und lächelte auch sogar mal zu den aufgekratzen Fans hinüber, die mir gegenüber saßen: Es war ein junges, sehr gepflegt wirkendes Ehepaar mit zwei bildhübschen Kindern, die wie Ihre Eltern eine dezente kleine Papier-Fahne schwenkten und immer wieder überglücklich "Olé!" durch das Abteil riefen. Sie waren aus Ecuador angereist, und gerade eben hatte ihre Mannschaft das Spiel gewonnen.

Und weil sie in ihren gelben T-Shirts, die den dunklen Teint ihrer Haut noch mehr betonten, nicht zu übersehen waren, rissen sie das ganze Abteil mit, und fast alle Fahrgäste stimmten im Chor mit ein, und wir riefen zusammen "Olé" und freuten uns mit ihnen. Das klang eben so ganz anders als dieses dumpfe "Deutschland, Deutschland", und ich habe gelernt, daß Patriotismus durchaus sympathisch und unaufdringlich sein kann, wenn er nicht gerade von Deutschen durchs Land gebrüllt wird.

Gruß Ben