Berlin-Glienicke, Oranienburger Chaussee 13, am Abend des 23. Januar 1962: Erwin Becker erwartet zahlreiche Gäste. Allein, in Zweier- oder Dreiergrüppchen klopfen sie an seine Tür. Alles soll möglichst unauffällig vonstatten gehen. Das Haus befindet sich direkt an der DDR-Grenzanlage. Westberlin beginnt nur wenige Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Bis 22 Uhr haben sich 28 Personen eingefunden. Dicht gedrängt sitzen sie in der Küche: Beckers Frau Gerda, sein Bruder Bruno, Nachbarn, Freunde, Kinder - fest entschlossen zu fliehen. In regelmäßigen Abständen patrouillieren Grenzsoldaten am Fenster vorbei. Sicherheitshalber haben zwei Männer an der Haustür Posten bezogen. Denn wenn jemand die Nerven verliert und im Affekt auf die Straße rennen würde, wären alle verloren.
Nach Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 geht Erwin Becker wochenlang der neuen Grenze entlang und sucht ein Schlupfloch. Der Heizungsmonteur ist fest entschlossen, einen Weg nach Westberlin zu finden, gibt er in einer späteren Befragung zu Protokoll: "Nach fünf bis sechs Fluchtversuchen über die Grenzbefestigungen reifte der Plan, die Flucht unterirdisch zu versuchen." Mittlerweile sind zahlreiche Flüchtende erschossen worden, sind in der Ostsee und der Spree ertrunken oder haben sich am Stacheldraht und in Minenfeldern tödlich verletzt. Am 15. Januar 1962 startet Becker einen neuen Versuch. Er durchbricht mit vier anderen Männern die 50 Zentimeter dicke Kellerwand seines Hauses. Seine Frau bezieht Posten an einem der Fenster: "In dem Tunnel wurde ein Alarmanlage eingebaut, die immer dann betätigt wurde, wenn sich Grenzsoldaten näherten", heißt es im Protokoll. "Mindestens zehn bis zwölf Mal am Tag hat uns Gerda in dem Tunnel Signal gegeben." Die Männer graben sich buchstäblich unter den Stiefeln der Grenzer voran. Jeder Marschtritt ist unter Tage zu hören und durch leichtes Beben zu spüren. Die gelockerte Erde wird im Keller aufgehäuft, insgesamt rund 22 Kubikmeter. Nach rund 15 Metern wird der Sauerstoff knapp, es besteht Einsturzgefahr. Dennoch wird weiter gegraben: "Nachdem wir festgestellt hatten, dass wir die Straße bereits überwunden hatten, stießen wir mit einer Eisenstange nach oben", erinnert sich Becker. Mit bloßen Händen und einer Kinderschippe schaufelt er sich ans Ziel. Nach acht Tagen spürt Becker den ersten Luftzug. Der 60 Zentimeter breite und 1,10 hohe Tunnel ist 26 Meter lang.
Gegen 0.45 Uhr kriecht Becker am 24. Januar 1962 aus der Erde. Noch trennen ihn wenige Schritte von Westberlin. In diesem Moment zieht eine Streife an ihm vorbei. Er versteckt sich hinter dem letzten Grenzzaun. Den anderen der Gruppe signalisiert er, im Tunnel zu bleiben. Über eine Stunde kauern sie im dunklen, sauerstoffarmen Gang. Erst als Becker den sicheren französischen Sektor betreten und die Westberliner Polizei alarmiert hat, verlassen die restlichen Flüchtlinge ihr Versteck unter dem Feuerschutz der Beamten. Drei Stunden später soll die Stasi den Tunnel entdeckt und geflutet haben. Die Geschichte geht weltweit durch die Medien. Eine amerikanische Filmgesellschaft bringt sie auf die Leinwand - mit Christine Kaufmann in der Hauptrolle und unter dem Titel "Tunnel 28", benannt nach der Anzahl der Flüchtlinge.
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