1983 ist die Stimmung in der Bundesrepublik aufgeheizt. Ende des Jahres soll der Nato-Doppelbeschluss umgesetzt werden: Als Antwort auf die sowjetischen Mittelstrecken-Raketen "SS 20" ist die Stationierung amerikanischer "Pershing II" in Europa geplant - falls Moskau nicht abrüstet. Die Angst vor einem Atomkrieg geht um. Gegen die Atomraketen protestieren Millionen Friedensbewegte. Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) sieht die Nachrüstung hingegen als Mittel der Friedenssicherung.
Am 15. Juni 1983 hält CDU-Generalsekretär und Bundesfamilienminister Heiner Geißler im Bundestag eine Rede zur Verteidigungspolitik. Er zitiert sinngemäß aus einem "Spiegel"-Interview mit dem grünen Abgeordneten Joschka Fischer: "Es sei angesichts von Auschwitz zu bedenken, ob jetzt wieder eine Massenvernichtung vorbereitet werde; früher entlang dem Koordinatensystem der Rasse und heute entlang dem Ost-West-Konflikt." Fischer ruft dazwischen: "Sie sollten sauber zitieren!" Geißler fährt fort: "Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht." Tumulte brechen aus. Der SPD-Abgeordnete Ernst Waltemathe, dessen pazifistische Verwandte in Auschwitz getötet worden sind, will von Geißler wissen, ob die Opfer demnach an ihrer Vernichtung selbst schuld gewesen seien. Die FDP-Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher fragt mit Tränen in den Augen, was der Pazifismus mit dem Judenhass der Nazis zu tun gehabt habe.
Geißler weist die Kritik anschließend im NDR zurück. Mit seiner Bemerkung habe er nicht den Pazifismus des KZ-Häftlings Carl von Ossietzky gemeint, sondern die pazifistischen Strömungen in Frankreich und England, die eine "Appeasement-Politik" gegenüber den Nazis ermöglicht hätten. Diese Beschwichtigungspolitik habe Hitler ermutigt, andere Länder zu überfallen und seine rassistische Politik bis zum Massenmord auszutoben. Diese Argumentation hält der Friedensaktivist Stefan Philipp auch rückblickend für infam. Er hat 1983 den Protest gegen die Nachrüstung mitorganisiert und gehört zur Deutschen Friedensgesellschaft, einem Verband politischer Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer. Auschwitz habe "komplett und nur in der Verantwortung der Deutschen" gelegen, sagt Philipp. Heiner Geißler, der seit 2007 Mitglied beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac ist, hat seine Aussage von damals bis heute nicht zurück genommen: "Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es eine richtige Beurteilung war." Die Demokratie sei ihm wichtiger gewesen als "ein reiner Kirchhofsfrieden", so Geißler.
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