Thema: Talkshows
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23. October 2001, 21:23   #7
Loddarnewyork
 
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Sechs Stunden Talkshow am Tag - ein Selbstversuch


Ich bin dumm.
Mir muß man die Welt erklären - täglich. Ich habe keine Ahnung von Sex, von Frauen, von Männern, eigentlich von überhaupt nichts.
Deshalb bin ich dankbar, daß da welche sind, die helfen.

Jörg, Vera, Sonja, Arabella, Bärbel, Thomie, Ilona, Andreas, Hans und Jürgen stehen mir bei, liefern Lebenshilfe frei Haus.

Am Freitag war Jörg der erste.
Pünktlich um elf pilawate er aus meinem Fernseher und stellte gleich Alexandra vor. "Ich will ein Kind von einem Star", verkündete die 25jährige und hatte für ihren Sprößling in spe auch schon den richtigen Vater parat. Kevin von den Backstreet Boys soll es sein, was Jörgs Gast Heino überhaupt nicht gefällt, und schon nach ein paar Minuten ist von Bespringen die Rede.

Jörgs Publikum quittiert so etwas mit ausgelassenem Grölen, und verstummt auch nicht, als die 15jährige Bettina vom MTV-Moderator Holger schwärmt.
Plötzlich steht Holger im Studio, und Jörg sagt zu Bettina: "Los, frag ihn was." Doch Bettina stammelt nur: "Ja, hallo." TV-Profi Holger fragt sich da sicher, warum man dieses arme Mädchen so schutzlos vor die Kamera gelassen hat.

Um zwölf kommt Vera und stellt mir Menschen vor, die einen Herzenswunsch haben. Da weint die 53jährige Irena schon zum Start, weil sie ihre Tochter seit vier Jahren nicht gesehen hat, und Sandra gesteht Sandor ihre Liebe so offen, daß ich peinlich berührt auf dem Sessel hin- und herrutsche.
Natürlich freut sich Vera, die Moderatorin, auf deren Stimmbändern das Timbre von Margarethe Schreinemakers zwischengelagert wird, über soviel Offenheit. Erstmals stellt sich die Frage, ob diese Sendungen nicht mit Beipackzetteln ausgestrahlt werden sollten: "Achtung, zuviel Lebenshilfe zerstört Eigeninitiative und Durchblick."

Letzterer fehlt mir ganz offensichtlich, denn unter dem Titel "Anschaffen - die lockere Mark nebenbei" erwarte ich um 13 Uhr von Sonja Tips, wie ich am Monatsende mein überschüssiges Geld investieren soll. Doch dann sitzt da plötzlich Silvia auf der Bühne und verkündet, während ich über den Tellerrand linse und mir die Lippen an der Suppe verbrenne, sie wolle gerne Domina werden. Dann serviert mir Sonja die Frage "Wie lebst du deine sexuellen Phantasien aus?" Und während ich zwischen Hauptgang und Dessert noch um Antwort ringe, merke ich erst, daß sie von mir gar nichts wissen will. Eher von ihren TV-Gästen, die allesamt eine Meinung oder Erfahrung zum Thema Prostitution beizutragen haben.

Herrschte bis dahin trotz fragwürdiger Themen noch eine halbwegs gepflegte Diktion vor, so werden um 14 Uhr die Löwen rausgelassen.
Dann kommen nämlich Arabella und Bärbel gemeinsam zu Besuch. Und zumindest bei Arabella kapiert man sofort, was Kritiker unter dem Schmähbegriff Brüllshow zusammengefaßt haben.

Da plustert sich ein Möchtegern-Macho nach dem anderen, outet sich ein gewisser Hakan als Fremdgeher, und Arabella faßt ihn dafür zärtlich ans Kinn. Kein Zweifel: Sie ist die Matadorin in der Wortkampfarena.
Ganz nach Belieben hetzt sie die Parteien aufeinander und zähmt sie, wie sie will. Sie könnte auch dafür sorgen, daß hier übersichtliche Kommunikation gepflegt wird, aber das wäre nicht quotenträchtig.
Hier ist wichtig, daß prollig gebrüllt wird, schließlich paßt das zum Thema "Männer verstehen Frauen nicht".

Bei dem angeschwipsten Kasperletheater fällt es kaum auf, wenn es daneben auf dem Zweitfernseher Bärbel Schäfer piepsen läßt. Die mußte ihre Aufzeichnung durch vielfaches Piep verfeinern, was nicht an Guildo Horn liegt, sondern an den Wörtern, die RTL angesichts der derzeitigen Diskussion lieber nicht senden will und deshalb "überpiept".
Beim Thema Abschleppen geht es nämlich nicht um falsch abgestellte PKW, sondern eher um andere Verkehrsvergehen. Da kommt Daniel rein und sagt: "Ich finde, die Julia muß mal richtig ge-"piep" werden."
Das erbost die Bärbel und sie spielt die gestrenge Pädagogin: "Dafür entschuldigst du dich auf der Stelle."
Das tut Daniel zwar, aber in der Folge erzählt er wilde Geschichten aus seiner komplett anwesenden Psychologiestudenten-WG. Die treibt es bunt und wild, und es nährt sich schnell der Verdacht, daß hier ein paar junge Leute der RTL-Schäferin mal einen ordentlichen Bären aufgebunden haben.

Danach fühle ich mich mal wieder ziemlich klein und frage mich, warum ich nicht auch solch ein toller Hecht wie Daniel bin. Wäre ich einer, müßten meine Freunde nicht immer zu mir kommen, dann dürfte ich auch mal in solch eine Show.

Aber das Gröbste habe ich jetzt eh hinter mir. Denke ich.

Während ich bemerke, daß Thommie und Jürgen freitags frei haben, lande ich bei Andreas Türck, zappe aber schnell wieder raus, denn bei Ilona lockt das Thema "Liebe macht blind".

Plötzlich wird nicht mehr zwangsgeduzt, und das Thema der emotional bedingten Sehschwäche eher bedächtig angegangen. Ein bißchen Sensation ist natürlich auch dabei, und schnell frage ich, wie ich vorher ohne die Bilder von dem Mann leben konnte, der für seine große Liebe viereinhalb Kilometer auf den Knien gekrochen ist.

Nach fünf Stunden Dauertalkshow zeigen sich heftige Erschöpfungserscheinungen. So viele uneingeladene Menschen, so viel unerfragte Intimität, so viel Sex.
Da wirkt es wie eine Spontandiagnose, wenn Altmeister Hans Meiser ab 16 Uhr gewohnt souverän und den Umständen entsprechend unpeinlich mit "Keine Lust auf Sex" in den Endspurt geht.
Spontan möchte ich ihm angesichts diverser geschilderter Probleme zustimmen und auch Gast in seiner Sendung sein. Und wenn dann einer fragt, warum, dann sage ich, daß ich ein ganz normaler Mensch war, bis ich an die verhängnisvolle Überdosis Unsinn geraten bin - sechs Stunden Talkshow hintereinander, ein grausamer Selbstversuch. Möge er der Menschheit nützen.