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6. May 2002, 16:18   #6
tw_24
 
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Deutschland ... Antisemitenland?

@ ChoppersHexe:

> Und nochmal, ich bin nicht braun angehaucht oder so.

Ohne Dir jetzt irgendwelche Gesinnungen unterstellen zu wollen, Du argumentierst aber so.

> Doch sollen wir uns deswegen immer ducken?
> Immer gute Miene zum bösen Spiel machen?

Ich glaube, daß das gar niemand von Dir oder uns, "den Deutschen", verlangt. Es kommt aber
gerade bei der sicher gerechtfertigten Kritik zum Beispiel am israelischen Vorgehen gegen
Palästinenser darauf an, wie diese Kritik geäußert und/oder begründet wird.

Wenn da zum Beispiel behauptet wird, "die Juden" machten heute genau das, was ihnen mit dem
Holocaust angetan wurde, dann ist eine solche Einschätzung allein schon durch den Bezug auf
den Holocaust antisemitisch. Daß dadurch auch noch das industriell betriebene Abschlachten
von Menschen allein aus rassischen Gründen verharmlos und relativiert wird, liegt auf der
Hand.

Oder noch ein aktuelles Beispiel: In Dresden fand am 1. Mai eine Demonstration der NPD
statt. Dagegen hatten die Stadt-Oberen einiges, wollte man "denen" doch die Straße "nicht
überlassen". "Gesicht zeigen" war angesagt, 12.000 Leute zeigten dann auch ihr Gesicht. Un-
ter ihnen zwei ältliche Damen mit einem Plakat, auf dem eine Frau im Fadenkreuz dargestellt
war. Der vielsagende Text: "Scharon - Massenmörder". Als aber zwei Palästinenser dieses
dämliche Duo mit Palästina-Fahnen beglücken wollten, wußten die Beschenkten gar nichts mit
den Winkelementen anzufangen. Scharon wird zum Massenmörder erklärt, die Fahne von Scharons
Opfern dagegen kannten die Damen gar nicht. In diesem Kontext würde ich dann auch die bei-
den Damen, die da ihr "Gesicht zeigen" wollten, als Antisemiten (Antisemitinnen?) bezeich-
nen, hätten sie das gleiche Plakat und die Palästina-Flagge doch auch auf der NPD-Demo mit
sich herumtragen können. Und tatsächlich tauchte zumindest die Fahne dann auch bei den Kurz-
haarigen auf.

In Berlin fand am 13. April eine Pro-Palästina-Demonstration statt, bei der Parolen geduldet
wurden, die sonst vermutlich den sofortigen Abbruch einer Neo-Nazi-Demonstration gerechtfer-
tigt hätten, doch es waren ja gar keine Neo-Nazis, die da ihrem Haß auf Israel Luft machten.
"Wir wollen keine - Judenschweine!" war da zu hören, es wurde der Hitler-Gruß gezeigt, als
eine Pro-Israel-Gegendemo vorbeizog. Kleinkinder posierten in Uniform - die "Disko-Besucher"
von morgen, die "Märtyrer" von morgen, die Mörder von morgen.
Und weil ein Bild manchmal mehr als Worte sagt ...



(Angesichts solchen Schwachsinns kann dann auch der bekennende Atheist nur die Hände falten
und ausrufen: Herr, laß Hirn vom Himmel regnen!)

So jedenfalls sieht Antisemitismus aus, der Israel auslöschen will. Und da kann ich es
durchaus verstehen, wenn Paul Spiegel oder Michel Friedmann ihren Unmut äußern. Das wollte
ich mit ein paar Freunden von der Antifa vor Ort auch tun, aber nette Herren in Uniform und
Ordner meinten, wir würden mit dem Transparent "Abschaffung der Todesstrafe für Restaurant-
besucher!" die öffentliche Ordnung stören.

> Sollen wir weiter die hohen Abfindungen an die Juden zahlen,obwohl die Meisten die an der
> "Geschichte" beteiligt waren,schon nicht mehr leben?

Naja, auch das ist so ein ganz spezielles Reizthema, auf das ich mit einem Aufsatz antworten
könnte - ich versuche mal die Kurzform:

Erstens: Nicht "die Juden" waren die Täter, sondern Deutsche und deutsche Unternehmen. Viele
der Unternehmen, die an Arisierung und Zwangsarbeit prächtig verdienten, existieren noch und
profitieren noch heute vom Holocaust. Für die Schäden der "Reichskristallnacht" zum Beispiel
mußten die Geschädigten selbst aufkommen, nicht etwa die Versicherungen, die mit dieser nicht
gerade geringen Ersparnis noch heute prächtig Zinsen und Zinseszinsen verdienen können.

Zweitens: Als falsch empfinde auch ich, wenn heute die Gemeinschaft der Steuerzahler für mo-
ralisch gerechtfertigte Entschädigungsleistungen aufkommen muß, während die wahren Profiteu-
re - nicht wenige der mittlerweile multinationalen Großkonzerne - ihre lächerlichen Beiträge
zum "Entschädigungs-Fonds" auch noch als "Verlust" steuermindernd abschreiben können. Diese
"Umverteilung" der Schuld ist aber nicht "den Juden" anzulasten, sondern unserem politischen
Personal und/oder "der Wirtschaft", deren gnadenloser Lobbyismus damals wie heute doch nur
gnadenlos nach Profitmaximierung strebte bzw. strebt.

@ Dr.Best & Lost Arrow:

Ihr kritisiert an Michel Friedmann zunächst seinen aggressiven Stil, ich mag ihn genau des-
halb. Bei der Labertante Christiansen kann jeder sagen, was ihm einfällt, nachgefragt wird
nicht. Friedmann dagegen fragt nach, fragt weiter - und provoziert dadurch so manche Ant-
worten, die den glänzenden Politiker danach in anderem Licht erscheinen lassen.

Nebenbei, wie würdet Ihr denn den bisherigen Threadverlauf bewerten, wäret Ihr Michel Fried-
mann oder Paul Spiegel?

> Ausserdem finde ich seine Einstellung zur Politik Sharon´s recht suspekt. Mag ja patrio-
> tisch sein, das er die Gewaltpolitik unterstützt, aber jeder vernünftige Mensch sieht in
> Sharon das was er ist, ein Kriegstreiber, dem nichts an Frieden mit den Palästinensern ge-
> legen ist.

Der "vernünftige Mensch" sieht aber auch, daß Arafat und seine Autonomie-Behörde den paläs-
tinensischen Terorismus zwar nicht öffentlich begrüßten, aber zumindest duldeten. Die Auto-
nomie-Behörde ist es zum Beispiel, die die irakischen "Kopfprämien" für "Märtyrer" an deren
Familien auszahlt. Und diese "Märtyrer" sind nun wahrlich keine Befreiungskämpfer, ihre
Auftraggeber wollen erklärtermaßen Israel auslöschen und ein religiös-fundamentalistisches
Regime errichten, in dem Menschenrechte allenfalls für Männer gelten.

Für den Westen erklärt dieser Arafat zwar immer, er und seine Behörde(n) gingen gegen Terro-
risten vor, die Realität sieht anders aus. Der Palästinenser Raif Laftawi wurde zum Beispiel
Opfer eines Lynchmordes, weil ihm vorgeworfen wurde, er hätte versucht, israelische Sicher-
heitsbeamte über geplante Terror-Anschläge zu informieren. Als "Kollaboration" wird solches
Verhalten bezeichnet und auch offiziell mit der Todesstrafe geahndet. Von 1987 bis 1993 wur-
den 800 Palästinenser als mutmaßliche "Kollaborateure" ganz legal umgebracht.

Es ist nicht die Kritik an Israel an sich, die die Vorwürfe des Antisemitismus hervorruft, es
ist die Einseitigkeit dieser Kritik. Scharon mag ein Kriegsverbrecher sein, doch das recht-
fertigt noch lange nicht Attentate auf Zivilisten. Wenn aber genau diese mörderischen An-
schläge auch in Deutschland als Heldentaten gefeiert werden, dann wird aus gerechtfertigter
Kritik an Israel blanker Antisemitismus.

Selbst unser geliebter und verehrter Kanzler, der Genosse Gerhard Schröder, ist nicht frei
von antisemitischen Denkstrukturen. Gleich die Bundeswehr wollte er nach Israel entsenden,
um für Frieden zu sorgen, als Vorwürfe hochkamen, die israelische Armee halte sich nicht an
Kriegsvölkerrecht - Welche Armee tut das heute noch? -, nicht einen müden Gedanken dagegen
verschwendete er an die Idee, die Autonomie-Behörde Arafats dadurch zu "motivieren", daß ihr
der Geldhahn zugedreht wird. Pro Kopf nämlich zahlt Deutschland an diese korrupte Behörde die
höchste Entwicklungshilfe. Dagegen wollte man Israel "auf Euro und Cent" genau vorrechnen,
was die Armee an Zerstörungen angerichtet hatte, meinte Gunnar Wiegand, Sprecher des EU-Außen-
kommissars Chris Patten. Daß über den von der EU finanzierten palästinensischen Rundfunk Auf-
rufe zum Mord und anti-jüdische Hetze ausgestrahlt wurden, unterschlug der "Vorrechner" ge-
konnt.

Insofern geht es gar nicht um deutschen Antisemitismus, sondern um dessen europäische Dimen-
sion, die viele nicht sehen wollen, die aber dennoch existiert.

MfG
tw_24