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8. May 2002, 14:59   #3
tw_24
 
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@ quentin

Vorbemerkung: Ich habe nicht vor, hier als Vertreter der DDR diese zu verteidigen. Erstens bin ich
kein Historiker und zweitens habe ich "nur" meine ersten 18 Lebensjahre in und mit ihr verbracht
und demonstrierte halt auch in Leipzig unter dem Motto "Wir sind das Volk." - nicht unbedingt für
die Wiedervereinigung, muß ich zugeben.

Und schon gar nicht will ich mich als "Ossi" als Stellvertreter aller anderen Neufünfländler auf-
zuspielen. Diese Rolle paßt mir nicht, da ich mich mit solchen Stereotypen ohnehin nicht anfreun-
den kann.

> glaub doch nicht, das man hier nicht gewusst haette, was ihr sehen koennt. propaganda gab es auch
> hier, sudelede, den konnte ich im sommer an der ostsee erleben, der taugt als zeuge soviel wie
> erich und walter zusammen.

Ja, aber Du hattest behauptet, "wir" hätten nichts gewußt von der Welt.

> etwas wie den spiegel, alten stern gab es bei euch nicht.

Stimmt, investigativen Journalismus gab es sicher nicht. Aber dennoch, auf Rundfunk und TV aus der
alten BRD und West-Berlin mußten nur wenige verzichten. Die DDR-Bürger waren keine "Dummköpfe", die
nur das glaubten, was Neues Deutschland, Junge Welt und die diversen SED-Bezirksblätter brachten.
Allerdings war auch die Presse der Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und DBD - Jetzt fängt das große
Rätselraten an, was das wohl alles heißen mag ;-) ... - nicht sonderlich unabhängig und "linien-
treu". Da müßten heute CDU und FDP als "Erben" der Blockparteien vielleicht noch ein wenig Ver-
gangenheitsbewältigung betreiben, aber das ist nicht mein Problem.

> und auch eure indutrie ist nicht vom himmel gefallen, sondern hat versucht, alte marken zu etablie-
> ren.

Nun, zunächst wurde im Rahmen von Reparationen vieles, was nach Ansicht der sowjetischen Besatzungs-
macht noch brauchbar war, in den Osten geschickt, während der Westen sich am Marshall-Plan erfreuen
durfte, den "wir" aus ideologischen Gründen ablehnten. Der Sozialismus sollte ja beweisen, daß er
besser ist als der Imperialismus.

Davon aber abgesehen wurde die Wirtschaft wiederaufgebaut, allerdings gab es ein neues Wirtschafts-
system, das sich nicht die profitmaximierende Ausbeutung des Menschen auf die Fahnen geschrieben
hatte. Ob eine solche Wirtschaft jemals wirklich ernsthaft mit einer kapitalistischen Wirtschaftsord-
nung konkurrieren könnte, die eben andere Prioritäten setzt, wage ich zu bezweifeln.

> was du ueber den gefangenenaustausch sagst, ist zynisch, gelinde gesagt.

Ja, das ist zynisch. Aber aus "unserer" Sicht gab es da doch wirklich nur "Gewinner". Die Kritiker
wurden "befreit", während "das Regime" Devisen erhielt, die es zur Selbsterhaltung einsetzen konn-
te. Man könnte jetzt allerdings auch fragen, ob der Freikauf politischer Gefangener durch die BRD
die Existenz der DDR in gewissem Maß stützte ...

> ihr ward bankrott, schlicht pleite und habt euch damit etwas ueber wasser gehalten.

Das kann ich nicht widerlegen, will ich auch gar nicht. Allerdings würde ich zum Beispiel auch auf
den Aspekt der wahnwitzigen Hochrüstung auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs hinweisen, denn ir-
gendwer mußte auch diese bezahlen. Und so floß sicher so manches Geld in eigentlich unsinnige Rüs-
tungsprojekte, das an anderer Stelle auch sinnvoll, nein, sinnvoller gewesen wäre. Und da waren die
"Verluste" auf der Seite des RGW sicherlich größer als im Westen. Der 2. Weltkrieg hatte ja die
Wirtschaften in der UdSSR, Polen, CSSR, Ungarn u.s.w. doch ziemlich zerstört, während die USA als
Gegenbeispiel sicherlich nicht über zerstörte wirtschaftliche Ressourcen klagen konnte. Insofern
waren die Ausgangspositionen im Wirtschafts- und Rüstungswettlauf nicht die gleichen.

> vollbeschaeftigung? weil das was einer machen konnte, auf 3 verteilt wurde. nicht umsonst kam der
> spruch auf, das ihr erst mal arbeiten lernen muesst.

Das müßtest Du mal mit jemandem diskutieren, der in der DDR gearbeitet hat, was mir alterstechnisch
ja erspart blieb. Ich glaube aber nicht, daß der Spruch so stimmt. Gearbeitet wurde in der DDR, nur
waren die Bedingungen manchmal nicht die besten. Das liegt vielleicht an der Planwirtschaft oder an
der Neigung, auch diese Pläne zumindest in der Statistik übererfüllen zu wollen, aber der Einzelne,
der hat sicher gearbeitet.

> vollbeschaeftigung?

Als "Staat der Arbeiter und Bauern" konnte sich die DDR ideologisch schon keine Arbeitslosen lei-
sten. Laut Marx definiert sich das Individuum über seine Arbeit, über das, was es arbeitend schafft.
In jedem Produkt, das der Marxsche Arbeiter schafft, sollte er sich im Idealfall wiederfinden. Man
kann dieses Ideal-Bild vielleicht mit dem Wirken Künstlern vergleichen, wobei ich jetzt nicht unter-
stellen möchte, daß Marx jedem Arbeiter einen Künstlerstatus verleihen wollte. Aber irgendwie sollte
der arbeitende Mensch sagen können: "Das habe ich geschaffen". Soviel zur Theorie. Ganz praktisch
hat auch "Scheinarbeit" den Vorteil, daß die "Scheinarbeiter" in der Gesellschaft integriert blei-
ben, die sozialen Kontakte nicht wegbrechen, wie das im Fall von Arbeitslosigkeit heute doch recht
häufig zu beobachten ist. Im sinne der Profitmaximierung hat "Scheinarbeit" freilich keine Berechti-
gung, die sozialen Folgen trägt ja nicht das Unternehmen, sondern die Gesellschaft allgemein.

> was bedeutet das, in allen rentnerhaushalten gibt es 2 berechtigte, unterm strich bezahlen wir im
> westen, das ihr rumstehen konntet.

Ich ging zur Schule. Da standen wir auch manchmal rum, hatten bunte Halstücher am Hals oder blaue
Hemden an und schworen irgendwem ganz brav ewige Treue ... Scherz beiseite, denn Schule ist ein
wichtiger Stichpunkt. "Wir" kannten keinen Unterrichtsausfall, sondern "Vertretungsstunden" - da lief
zwar auch nicht immer alles wie geplant, aber wenn man in die deutsche Gegenwart blickt, in der al-
lein schon der Begriff "Vertretung" eher selten ist, "Ausfall" dagegen die Regel zu sein scheint,
ließe sich auch noch über die Bildungssysteme diskutieren ...

> wie kommt es denn, das bei gleichen voraussetzungen im westen ueber 25% mehr produktivitaet besteht.

Naja, mit einer erst durch den Krieg zerstörten und dann nur notdürftig aufgebauten Wirtschaft, die
nach der Wende dann auch noch "herabgewirtschaftet" wurde, ist die Antwort wohl klar. Aber das liegt
nicht an den einzelnen Arbeitenden, sondern an den äußeren Umständen. Bei Infineon und AMD in Dresden,
demnächst wohl BMW in Leipzig und an anderen Orten liegt die Arbeitsproduktivität sicherlich nicht
unter der des Westens. Nur wird hier weniger bezahlt.

> was fuer zeitungen/sender liest, siehst du eigentlich heute.

TV schaue ich ausgesprochen selten, mein Radio kennt nur den Deutschlandfunk. Zeitungen: Jungle World,
Junge Welt, taz, Frankfurter Rundschau, Sueddeutsche, manchmal die FAZ, Junge Freiheit und Die Woche,
die es aber nicht mehr gibt.

> wie kommt es, das %tual erheblich mehr ossis als wessis amerikaurlaube machen koennen. ihr habt doch
> kein geld, ja wer bezahlt das denn.

Hm, ich dachte schon, daß Urlauber ihre Reisen selbst bezahlen. Aber wenn Du mir eine USA-Reise spen-
dieren willst, hätte ich dagegen auch keine Einwände ;-). Ein paar nette Tage in Prag würden aber auch
ausreichen.

> geld faellt zumindest fuer wessis nicht vom himmel.

Auch für Ossis nicht.

> 150 000 000 000 DM pro jahr in den westen gesteckt, kannst du dir das wirtschaftswunder vorstellen,
> dann kaemen auch westliche rentner in den genuss, mal ins ausland fahren zu koennen und nicht nur
> dafuer zu bezahlen.

Dazu sage ich erstmal gar nichts. Ich erinner mich aber, daß die PDS mal vorgerechnet hat, was an
Werten zwischen Ost und West ausgetauscht wurde. Wenn ich diese Rechnung finde, reden wir darüber mal
weiter.

> schau dir doch mal deine bruderstaaten an, die keinen reichen bruder im westen haben. schon mal
> gemacht? und wo haettet ihr eigentlich euren schrott verkauft? die UDSSR gibt es nicht mehr,
> russland hat ohne ende schulden und im westen gab es fuer das zeug keinen markt.

"Wir" haben vielleicht mit "Schrott" produziert, aber nicht unbedingt "Schrott". Die westdeutschen Ver-
sandhändler waren doch in manchen Bereichen "unsere" besten Kunden.

> deutsche juden. tolle sache, ausgerechnet von eunem ossi nachhilfe zu bekommen. wieviel synagogen
> gab es in der DDR. wieviel juediscche gemeinden gab es in der DDR.
> keine! erst in den 80zigern begann man mit , ich glaube 28 leuten, so etwas in ostberlin zu
> etablieren.

Gehört jetzt vielleicht in den anderen Thread, aber vielleicht auch an diese Stelle.

Die DDR hatte ein mehr als zwiespältiges Verhältnis zum Staat Israel, den sie auch gar nicht anerkann-
te, wenn ich mich richtig erinnere. Ansonsten pflegten die selbsternannten Antifaschisten einen Anti-
zionismus, der auch heute noch gelegentlich aufkommt.

Am 8. Februar 1990 bekannte sich die DDR erstmals offiziell zu einer deutschen Verantwortung am Holo-
caust. Hans Modrow meinte rückblickend irgendwann: "Die DDR hatte die Juden bislang nicht als Opfer
der Nazis wahrgenommen, sondern höchstens einige ihrer Widerstandskämpfer geehrt." Das heißt aber
nicht, daß die "Endlösung der Judenfrage" nicht Gegenstand des Geschichtsunterrichts war.

In der DDR lebten etwa 4.500 Juden, die aber nicht wirklich als solche anerkannt waren, da hat quentin
Recht.

> glaubst du, alle im westen waeren bloed, ihr haltet euch ja fuer sehr schlau.

Ich halte nicht alle im Westen für blöd. Da sind ja mittlerweile auch ein paar schlaue von "uns" zu
finden ;-). Aber nochmal, eine Ossi vs. Wessi-Diskussion halte ich nicht für sinnvoll.

> rolf hochhut, ein absoluter gegner der adenaueraera, ja er lebt immer noch hier.

Stimmt, aber was der für einen Ärger hatte, weil er Hans Filbinger "enttarnte". Auch wenn es Unfug
ist, jetzt gegenseitig vorzurechnen, wer schlimmere Zensur ausübte - da würde zweifellos die DDR
schlechter abschneiden -, kann ich mir den Verweis auf Klaus Mann nicht verkneifen. Sein "Mephisto"
durfte in der BRD lange Jahre nicht erscheinen, während das Buch in der DDR schon gelesen wurde. ES
paßte allerdings auch gut ins Selbstverständnis der antifaschistischen DDR.

> wir haben ihn auch nicht wie wolf biermann, dessen konzert ich damals gesehen habe, wurde komplett
> vom west - fernsehen bis des nachts uebertragen, ausgebuergert.

"Wir" haben dafür die Sozialisierung von ein paar RAF-Terroristen übernommen ;-). Ansonsten siehe
oben.

> das mit dem glashaus kennst du

Ja. Aber da sitzen wir wohl beide drin.

Wenn es zum Beispiel um politische Justiz im Westen ginge, fielen mir sofort die beiden hervorragenden
Bücher von Heinrich Hannover ein: "Die Republik vor Gericht 1954-1974" und Teil 2 "Die Republik vor
Gericht 1975-1995" ...

MfG
tw_24