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12. May 2002, 07:01   #1
jupp11
 
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Sexueller Missbrauch ist Ansichtssache

Ich war mir nicht ganz sicher, wo dieser Artikel hingehört. Da er aber mit dem Leben zu tun hat, hab ich ihn mal hier reingestellt.
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Von der Tante in die Liebe eingeführt...
Sexueller Missbrauch ist Ansichtssache

LUDWIGSBURG - Die Mutter darf ihrem Sohn den Bauch streicheln, der Vater seiner Tochter aber nicht. Die Lehrerin kann ihren Schüler zu sich einladen, beim Lehrer, der eine Schülerin nach Hause bittet, wird sexueller Missbrauch vermutet. Ob eine Handlung in der Gesellschaft als sittenwidrig gilt, hängt maßgeblich davon ab, ob der Akteur Mann oder Frau ist.

"Der Onkel führt seine 15-jährige Nichte in die Liebe ein, worauf beide Lust haben." Eindeutiger Fall von Missbrauch, urteilten 58 % von 670 Studienteilnehmer, die diese fiktive Situation einschätzen sollten. Im spiegelbildlichen Szenario, in dem die Tante ihren 15-jährigen Neffen in die Freuden der Erotik einweiht, wähnten nur 38 % ein Delikt.

Und noch mehr krasse Diskrepanzen ergaben sich in der neuen Studie des Ludwigsburger Sexualforschers Dr. ARNOLD HINZ. Überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene waren es, die an seinem Projekt teilnahmen. Sie beurteilten insgesamt zwölf Szenen im Grenzbereich zum sexuellen Missbrauch, in denen ein Erwachsener einem Kind bzw. einer abhängigen Person auf unterschiedliche Weise nahe kommt. Von jeder Handlung gab es zwei Versionen, in denen entweder ein Mann oder eine Frau die aktive Rolle spielte. "Ist dies sexueller Missbrauch?", lautete die Frage zu jeder Szene, die fünf Antwortmöglichkeiten reichten vom klaren Ja, über "eher Ja", "weiß nicht" und "eher nein" bis zum klaren Nein.

Was tut der Mann, der die nackte 14-jährige Tochter seines Freundes allein am FKK-Strand fotografiert? Hier votierten 58 % der Befragten für "klares Ja" oder "eher Ja" in der Missbrauchsfrage. Die Vorstellung, dass eine Frau den nackten Sohn der Freundin knipst, führte indes nur bei 22 % zur positiven Antwort.

Dem alleinstehenden Lehrer, der eine Schülerin zum Abendessen in sein Haus einlädt, bescheinigten 23 % sexuellen Missbrauch. Die Lehrerin, die einen Schüler zu sich bittet, kam hingegen nur 11 % verdächtig vor.

Dass ein Vater seiner 13-jährigen Tochter beim Kuscheln im Ehebett den Bauch streichelt, fanden 23 % suspekt. Dagegen bejahten nur 8 % die Missbrauchsfrage, wenn die Mutter den Sohn gleichermaßen berührt. Ebenso wurde der Papa, der mit seiner elfjährigen Tochter badet, eher verurteilt als die Mutter, die mit ihrem Sohn in die Wanne steigt.

In nur einer Situation gingen die Befragten mit der Frau strenger ins Gericht als mit dem Mann: "18-Jährige(r) und 13-Jährige(r) sind sehr verliebt und schlafen zum ersten Mal miteinander." 49 % sprachen den 18-jährigen Mann, aber nur 40 % die 18-jährige Frau vom Missbrauchs-Verdacht frei. Dies dürfte mit gesellschaftlichen Altersnormen für Beziehungen zu tun haben, vermutet der Kollege vom Ludwigsburger Institut für Pädagogische Psychologie und Soziologe. Die Frau soll jünger sein als der Mann, das Umgekehrte gilt eher als abnormal.

Last but not least eine Szene, die frappierend unterschätzt wurde: Psychotherapeut/in und gleichaltrige/r Klient/in verlieben sich, das Ganze mündet in einer sexuellen Begegnung. Fast 70 % der Studienteilnehmer beschieden hier die Missbrauchsfrage mit einem klaren Nein. Und das, obwohl alle Therapieverbände dies eindeutig als "sexuellen Missbrauch" sehen, selbst wenn die psychotherapeutische Behandlung bereits beendet ist. Dass die Schutzwürdigkeit von Psychotherapieklienten noch nicht ins Allgemeinbewusstsein gerückt ist, mutmaßt Dr. Hinz, könnte mit den vielen Kinofilmen zu tun haben, die das Klischee vermitteln, eine Liebesbeziehung zwischen Therapeut und Klient sei eher die Regel als die Ausnahme.

Das Fazit der Studie insgesamt: Heterosexuelle Situationen mit einem Mann in der Täterrolle werden eher als sexueller Missbrauch wahrgenommen, als wenn die Frau die Akteurin ist. Sexueller Missbrauch scheint gängigen Stereotypen über das Frausein und Mutter-Kind-Beziehungen stark zu widersprechen. Von einer Frau wird einfach nicht erwartet, dass sie sich am Körper eines Kindes befriedigt, verdeutlicht Dr. Hinz. Entsprechende Berichte schockieren sogar Therapeuten immer wieder.

Allerdings ist es unbestritten, räumt der Autor ein, dass die meisten Sexualstraftaten von Männern begangen werden, deshalb ist ein kritischer Blick schon angebracht. Andererseits enthielt der Fragenkatalog der Studie nicht wenige Situationen, in denen offen blieb, ob eine sexuelle Handlung überhaupt beabsichtigt wurde. Der Begriff "sexueller Missbrauch" sollte seines Erachtens auf keinen Fall ausgeweitet werden. Denn dies könnte dazu beitragen, die Leiden bei echtem Missbrauch zu verharmlosen, warnt Dr. Hinz. Er rät: Bei jedem Urteil sollte man sich fragen, wie man entscheiden würde, wenn das Geschlecht des mutmaßlichen Täters und des Opfers anders wäre .

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Da kann man mal sehen, wie sehr doch das gesellschaftliche Umfeld Vorurteile pflegt.

Den letzten Satz oben finde ich bemerkenswert. Ich werde demnächst bei der Beurteilung solcher Sachen mal versuchen die Geschlechter auszutauschen. Mal sehen, ob ich dann zu dem gleichen Ergebnis komme.