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4. June 2002, 00:12   #1
jupp11
 
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Enttarnung eines Spions

Zitat:
Vor dem Haager Tribunal sagte in der letzten Woche erstmals ein Serbe gegen Slobodan Milosevic aus. In Belgrad sorgt der Auftritt von Ratomir Tanic, dessen Geschichte einem Spionageroman entnommen sein könnte, für Aufregung.


Ratomir Tanic: Belgrader Zeitung gibt K3 ein Gesicht

Von Emilija Mancic
Wie die Belgrader Presse aus der Gerüchteküche Den Haags berichtete, erwartete man von Milosevic, dass er nun – wo er erstmals mit der Zeugenaussage eines serbischen Insiders vor dem Haager Tribunal konfrontiert war - endlich aus dem Konzept kommen würde. In den fieberhaft erwarteten und lange angekündigten Schlüsselzeugen setzte die Anklage offensichtlich große Hoffnungen.

Dem «verdeckten Zeugen», angemeldet unter der Nummer K3, wurde eine neue Identität und ein neuer Aufenthaltsort für die Zeit nach dem Prozess versprochen. Milosevics Protesten zum Trotz konnte man das Gesicht des Insiders im Fernsehen nicht sehen, weil es sich um einen ehemals engen Mitarbeiter eines aktuellen serbischen Ministers handelt, wie der Ankläger Nice erklärt hat.



Im Dienste ihrer Majestäten

K3 wurde jedoch am Tag des Verhörs vom Ankläger namentlich als Ratomir Tanic enttarnt, dessen Biographie einem Thriller von John Le Carré oder Eric Ambler entstammen könnte. Tanic, der einst einen Juwelierladen betrieben und sich Gerüchten zufolge um den Kosmetikimport gekümmert haben soll, war Mitglied der früheren Oppositionsparteien, die jetzt in Belgrad an der Regierung beteiligt sind.

1993 wurde er Vizevorsitzender der oppositionellen Bürger-Allianz von Vesna Pesic, verließ die Partei aber wegen deren mangelndem Interesse an der nationalen Sache und wechselte zur «Neuen Demokratie», der Partei des jetzigen serbischen Innenministers Dusan Mihajlovic, dessen außenpolitischer Berater Tanic wurde. Auf den ersten Blick scheinen sämtliche Details aus dem Lebenslauf Tanics eher unspektakulär - bis auf eine Kleinigkeit: dass er gleichzeitig Mitarbeiter von Milosevics Geheimdienst war.

In einigen Zeitungsartikeln wird sogar behauptet, Tanic wäre Milosevics Spion unter den damaligen Oppositionellen gewesen mit dem Auftrag, die Parteien in geheimer Mission von innen her zu zerschlagen. Milosevics Geheimdienst war aber wohl nicht der einzige Auftraggeber Tanics. Zugleich soll er auch Kontakte mit dem englischen, russischen und italienischen Geheimdienst gepflegt haben.



Überraschung in Belgrad

Der von der Nachrichtenagentur Reuters als Kronzeuge vermutete Tanic sorgt in seiner ehemaligen Heimat für Befremden und Erstaunen. In Belgrad hat man einen viel wichtigeren und engeren Vertrauensmann Milosevics erwartet, etwa den früheren Innenminister Vlastimir Rodja Djordjevic, der schon seit einer Weile vermisst wird, oder den früheren Chef des Zollgrenzschutzes Mihajl Kertes.
Tanic indes war eine echte und nicht unbedingt angenehme Überraschung für so manchen aktuellen serbischen Politiker.

Die Partei des serbischen Innenministers Dusan Mihajlovic gab am ersten Tag von Tanics Vernehmung in einem Pressebulletin zu Protokoll, Tanic sei nur ein Sympathisant und nicht Mitglied der Partei gewesen und zudem nur einer unter dreißig anderen Beratern des Parteichefs. Mihajlovic will alle anderen Aktivitäten Tanics als dessen Privatangelegenheit abtun und spricht seinen Aussagen jedes Gewicht und alle Glaubwürdigkeit ab.

Dabei hat die serbische Öffentlichkeit fast vergessen, dass die Neue Demokratie zwischen 1994 und 1997 der Koalitionspartner Milosevics war. Obwohl viele an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln, sind sich doch alle früheren Kollegen Tanics in einer Sache einig: Er hat an ausländischen Gesprächsrunden zwischen serbischen und albanischen Vertretern teilgenommen, stand Milosevic letztlich aber nicht wirklich nahe.



Belastendes Material

Mag sich Tanics Ex-Partei von ihm distanzieren, mag ihn Milosevic als «offensichtlich kranke Person oder Betrüger» beschimpfen und mag man ihn auch als hochverschuldeten Hochstapler bezeichnen - wenn seine Aussagen zutreffen, stellen sie das bisher belastendste Material gegen Milosevic dar. Tanic sagte vor Gericht, Milosevic habe zunächst die Zahl der Albaner im Kosovo unter eine Million drücken und erst daraufhin nach einer politischen Regelung suchen wollen.

Milosevic hätte einen kleinen Krieg gegen die NATO gesucht, um die einheimischen Gegner zu disqualifizieren und habe den Krieg dann absichtlich verlängert, um durch die zivilen Opfer auch die Allianz zu diskreditieren.

Vom ehemaligen Geheimdienstchef Zoran Mijatovic will Tanic erfahren haben, dass die albanischen Mordopfer nach Milosevics Anweisung zur Vertuschung aus dem Kosovo entfernt worden sind. Milosevic streitet alles ab und sein ehemaliger Parteichef Mihajlovic beschwichtigt, Tanic kenne alles «nur vom Hörensagen». In Den Haag aber entscheidet Richter Mey.



Strategie des Tribunals

Der Auftritt von Ratomir Tanic in Den Haag als Zeuge gegen Milosevic hat noch einmal für Verwirrung in der serbischen Bevölkerung gesorgt. Einerseits bleiben viele Fragen in Bezug auf die Strategie des Tribunals offen. Wieso ist gerade jemand mit einer solch zwielichtigen Biographie und mit einem Posten ohne Entscheidungskraft als Trumpf der Anklage angekündigt, warum hat man den Namen eines verdeckten Zeuges offenbart, und warum konnte man sein Gesicht im Fernsehen nicht sehen, obwohl die Belgrader Medien sein Foto doch gleich nach bekannt werden seines Namens gezeigt haben?



Vergangenheitsbewältigung und Emanzipation

Auf der anderen Seite bleiben Fragen in Bezug auf die Strategie der serbischen Politiker offen. Eine unter mehreren wäre, ob man tatsächlich warten will, bis im Haager Gerichtssaal wieder an den Wunden der jüngsten Geschichte gerührt und wieder einmal enttarnt wird, wer in Serbien für wen und in wessen Auftrag gearbeitet hat.

Mittlerweile werden immer häufiger Forderungen erhoben, die Archive der Staatssicherheit zu öffnen. Denn so lange Serbien nicht über seine eigene Vergangenheit zu Gericht sitzen kann, kann sich die serbische Zivilgesellschaft nicht emanzipieren – weder vom Haager Tribunal, das die Mehrheit der Bevölkerung als Siegerjustiz empfindet, noch vom selbsternannten Vertreter und Beschützer des serbischen Volkes, dem Angeklagten Milosevic.
Irgendwie bekommt man kaum mit, wie es eigentlich um Milosevic und seine Komplizen bestellt ist in Den Haag. Nur weil Friedman und Möllemann sich Schimpfwörter um die Ohren hauen, werden wichtige Themen an den Rand gedrängt.

Hat jemand eine Ahnung, wann im Milosevic-Prozess mal mit einem Urteil gerechnet werden kann?