Einzelnen Beitrag anzeigen
14. June 2002, 20:46   #1
jupp11
 
Registriert seit: January 2002
Beiträge: 4.013
Tabus, die keine sind...

@tw_24
Nun hat Habermas der Sache einen grundsätzlichen Aspekt abgewonnen, der imho einen Extra Tread rechtfertigt. Ob aber in Politik oder Philosophie, weiss ich nicht so genau. Wenn Du ihn allerdings irgendwo anders plazieren oder angliedern willst, habe ich natürlich nix dagegen.
-------------------------------

Zitat:
Jürgen Habermas hat sich in die Debatte um den Antisemitismus eingeschaltet und den beliebten Vorwurf der «politischen Korrektheit» aufs Korn genommen.

Von Ulrich Gutmair

Der Untertitel gab sich zwar bescheiden, ließ aber dennoch durchscheinen, dass Jürgen Habermas darauf aus war, «aus gegebenen Anlässen» ein grundsätzliches Statement zum so genannten Antisemitismusstreit abzugeben: Seine in der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlichte «semantische Anmerkung» widmete er Marcel Reich-Ranicki.

Der Philosoph analysiert

Habermas in der "Süddeutschen":«das diffuse Geschwätz über Tabus und ihr mutiges Abschütteln» und macht deutlich, dass die Rede vom «Tabubruch» in Bezug auf antisemitische Äußerungen unangebracht ist. Das Tabu etwa des Inzests oder des Kannibalismus äußert sich als «Ekelschranke». Wo sie besteht, «bedarf es gar nicht erst eines moralischen Verbots, nach dessen Begründung gefragt werden könnte.»

Unaufgeregter Realitätssinn

Habermas hinterfragt aber nicht nur die Motive der inflationären und falschen Benutzung des Tabubegriffs. Er verknüpft diese Kritik mit einem Angriff auf den negativ gewendeten Begriff der «politischen Korrektheit», mit dem man es sich hierzulande so gemütlich gemacht hat, dass er als Konsens gelten darf.

Die mit ihm verbundene Operation besteht entweder darin, in Bezug auf ein beliebiges Thema ein angeblich existierendes «Denkverbot» erst auszumachen und dann zu übertreten, wobei meist im Dunkeln bleibt, wer dieses Verbot jemals durchgesetzt haben könnte. Als Urheberin benannt wird stattdessen die ominöse Institution der politischen Korrektheit, deren Wesen darin besteht, ihre unverrückbaren Glaubenssätze über die «unaufgeregte» Auseinandersetzung mit der Realität zu stellen.

Oft wird auch ganz generell der moralisierend- doktrinäre Stumpfsinn der politischen Korrektheit gegeißelt, von dem man anschließend ebenfalls nur selten erfährt, worin er denn konkret besteht. Diese Operation dient dem jeweiligen Sprecher meist als Beleg für den eigenen Realitätssinn und zur Rechtfertigung des eigenen Anliegens.

Betroffenheit bloßstellen

Soweit wäre es ganz amüsant, dem Kampf gegen die Windmühlen der «politischen Korrektheit» zuzusehen, der in Feuilletons und bildungsbürgerlichen Runden unermüdlich ausgefochten wird. Doch Habermas weist nun darauf hin, dass eben jener Begriff den Gestus des «Tabubrechens» vorbereitet hat, den Möllemann jetzt mit Erfolg vor den Stammtischen der «selbstbewussten Nation» aufführen kann: «Die selbstgefällig-flotten Tabubrecher (...) benutzen den entliehenen Emanzipationsdiskurs als Waschanlage. Darin verwandelt sich der schwitzende Mief der Verstockten in den Lustgewinn von alert Aufmüpfigen.»

Es gibt in der Tat keinen Kampfbegriff, der im letzten Jahrzehnt eine so beispiellose Karriere gemacht hat wie der Vorwurf der «politischen Korrektheit». In aller Ausführlichkeit hat Diedrich Diederichsen seine Funktionen bereits 1996 unter dem schönen Titel «Politische Korrekturen» beschrieben. Diederichsen zeigt, wie die «Titanic»-Linke den Begriff des «Gutmenschen» erfand, um die in den frühen Achtzigerjahren im alternativen Milieu tief verwurzelte Betroffenheitsrhetorik als unpolitisch und erstarrt bloßzustellen.

Auf der Rechten wiederum wurde der Vorwurf politischer Korrektheit seit 1991 immer wieder dazu benutzt, um biologistische Argumentationsführungen zu legitimieren, den Feminismus anzugreifen und Kritik an Politik sowie das Einklagen politischer Moral als «politisch korrekten Tugendterror» zu diffamieren.

Tabubrecher Möllemann?

Auch Habermas hält den aus den USA importierten Vorwurf der Political Correctness in diesem Sinn für einen Kampfbegriff: «Man musste ihn nur aus dem akademischen Entstehungskontext herauslösen und mit richtiger Stoßrichtung in die deutsche Geschichtsdebatte verpflanzen.» Dort sei er gezielt als «Reflexionsstopper» eingesetzt worden: «In dieser Funktion ist er in den seriöseren Feuilletons dann auch zum Zuge gekommen.»

Wie Habermas weiter feststellt, hat der Begriff als «Brücke» zur Befreiungsrhetorik des «Tabubruchs» gedient. So hat er dazu beigetragen, dass die «Verletzung einer Wertorientierung», nämlich das Äußern antisemitischer Klischees, absichtlich als «Tabuverletzung» missverstanden werden kann. Denn von Tabubruch könne etwa im Fall Möllemann keine Rede sein, außer man lege es darauf an, zivilisatorische Errungenschaften, die aus «kollektiven Lernprozessen» resultieren, in naturwüchsige Unmündigkeiten umzudefinieren, die Stammesgesellschaften als Tabu kennen.

Der ungenannte Walser

Aus der Rhetorik der Befreiung vom Tabu spricht laut Habermas das Programm der Normalisierer und Revisionisten: «Das arme, von angeblichen Kollektivschuldvorwürfen gemarterte deutsche Volk muss endlich ein freies Verhältnis zur eigenen Geschichte finden – muss sich 'befreien' vom 'Tabu' des Massenmordes an den europäischen Juden, das ihm von seinen Umerziehern auferlegt worden ist.»

Habermasens Fazit: «Der Aggression gegen das Fremde kann man endlich freien Lauf lassen, nachdem eine glücklich entsorgte nationale Geschichte der Idealisierung des Eigenen nicht länger im Wege steht.» Habermas erwähnt ihn nicht, doch drängt sich dem Leser spätestens an dieser Stelle Martin Walser auf. Der hatte in seiner Friedenspreis- Rede von 1998 unter anderem davon gesprochen, dass es angesichts der «Instrumentalisierung unserer Schande» an der Zeit sei, anders mit der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus umzugehen: «An der Disqualifizierung des Verdrängens kann ich mich nicht beteiligen.»

Das Publikum ist illiterat

Die von Habermas vorgenommene Verknüpfung von «politischer Korrektheit» mit dem Aufruf, als Nation doch endlich «normal» zu werden, hat nun Karl Heinz Bohrer, den ehemaligen Literaturchef der «FAZ», ebendort zu einer bösen Replik animiert. In ihr unterstellt er Habermas unter anderem eine «Regulierungsobsession».

Auch Marcel Reich-Ranicki wird von Bohrer angegangen. Nur «aus autobiographischen Gründen» verzichtet Bohrer darauf, «die intellektuellen und literaturkritischen Defizite des von Walser ins Auge gefassten Kritikers näher zu erläutern, eine Schwäche, die dessen Medienmacht bei seinem weitgehend illiteraten Publikum nur noch gesteigert hat.»

Die 'Bigotterien' von gestern anprangern

Die Stumpfheit des Publikums legitimiert für Bohrer auch weiterhin die Nutzung des negativ besetzten Begriffs der politischen Korrektheit, um die «hierzulande grassierenden politischen Bigotterien zu charakterisieren». Die von Bohrer angebotene Liste dieser Bigotterien scheint allerdings einem Szenario von circa 1985 entlehnt: «Kein Krieg nirgends, nur Konsens ist erlaubt, Lernen muss Spaß machen, Elite ist böse.» Gegen die «Kerzenträger» solch «doktrinärer Glaubensgewissheiten» müsse die zivilisierte Rede im Dienst «nüchterner Realitätserkenntnis» angehen, glaubt Bohrer.

Gerade die Realitäten fernab des Feuilletons zeigen dem aufmerksamen Beobachter aber, welche Folgen der Kampf gegen das Gespenst der politischen Korrektheit inzwischen gezeitigt hat. So sprechen gebildete Menschen heute zum Beispiel gerne wieder von «Negern», wenn sie Afrikaner benennen wollen. Sie sind sich sicher, somit an einer überaus notwendigen Mission teilzunehmen: Gestern war man «betroffen», heute geißelt man den «Tugendterror».
Mein Reden seit anno tuck, jeder Politiker oder Lobbyist bemüht hehre Worte um sein eigenes Süppchen zu kochen.