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17. June 2002, 17:38   #4
tw_24
 
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Zitat:
Zitat von jupp11
Nun hat Habermas der Sache einen grundsätzlichen Aspekt abgewonnen, der imho einen Extra Tread rechtfertigt. Ob aber in Politik oder Philosophie, weiss ich nicht so genau. Wenn Du ihn allerdings irgendwo anders plazieren oder angliedern willst, habe ich natürlich nix dagegen.
Wenn wir das ohne Bezüge zur aktuellen Politik und Kultur auf einer abstrakteren Ebene diskutieren könnten, wäre er sicher auch in der Philosophie-Abteilung gut aufgehoben. Doch dann müßten wir in meinen Augen gleich ein paar Begriffe und Namen, die zumindest noch im Feuilleton die Schlagzeilen bestimmen, zum Tabu erklären ;-). Aber davor halte ich es dann doch mit quentins "Eine philosophische Betrachtung halte ich der Ehre für zuviel.", da ja selbst Habermas nicht ins Blaue hineintheoretisiert, sondern sich "aus gegebenen Anlässen" in der Süddeutschen an Marcel Reich-Ranicki wendet.

Die Süddeutsche mußte den Aufsatz wohl bringen, um sich vom (unausgesprochenen) Vorwurf reinwaschen zu können, sie sei im erfreulich unaufgeregten Umgang mit Martin Walser zu zurückhaltend gewesen, da sie sich nicht der allgemeinen medialen Empörung über den "Tod eines Kritikers" angeschlossen hatte, sondern einfach nur eine sachliche Literaturkritik betrieb.

Denn genau das rückte die Süddeutsche wohl in manchen Augen in die Nähe solcher "Organe wie die Junge Freiheit", die vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen mit schöner Regelmäßigkeit als "rechtsextrem" bezeichnet wird, was sich dann auch bis hinein in die "bürgerlichen" Medien auswirkt, die solchen Unsinn einfach übernehmen ohne daß ihre Redakteure auch nur eine Ausgabe der Jungen Freiheit jemals selbst gelesen haben dürften.

Vom Aufsatz des Jürgen Habermas halte ich allerdings wenig und ihn eigentlich auch kaum für erwähnenswert.

Wenn er "die heute verbreitete Verurteilung des Antisemitismus" nicht als "Ausdruck einer blinden, affektstabilisierten Abwehrhaltung" definiert, sondern als "das Ergebnis von kollektiven Lernprozessen", liegt er rein semantisch betrachtet sicher richtig. Das Ergebnis dieser "kollektiven Lernprozesse[n]" könne kein Tabu sein, denn dieser Begriff sei Ausdruck "für den scheuen, meist ritualisierten Umgang mit 'heiligen' Objekten", habe also mit Lernprozessen wenig gemeinsam. "Das von Tabus umstellte Heilige schien für die Stammesangehörigen attraktiv und abschreckend zugleich zu sein - Terror und Bezauberung in einem."

In dieser Diktion sind Tabu und Tabubruch also nicht Ausdruck von Vernunft bzw. Unvernunft, nicht das Ergebnis von Lern- und Denkprozessen, sondern etwas Unbewußtes, Gefühltes, Aberglaube, Mystisches - also in gewissem Sinn Unsinn.

Dagegen lobpreist er den Lernprozeß, dessen Folge "die heute verbreitete Verurteilung des Antisemitismus" ist. (Was freilich die Frage aufwirft, ob Antisemitismus quasi angeboren sein könnte und damit "natürlich" oder gar "menschlich" ...)

"Die Überwindung von Ethnozentrismus und Xenophobie bedeutet immer einen Einstellungswandel, der sich unter günstigen Umständen, auch aus moralischer Einsicht, gegen anfängliche Gefühlsreaktionen durchsetzen kann. Nehmen wir einmal an, dass sich mit einem solchen Wandel der Gesinnung eine besondere Sensibilität gegenüber den Opfern eines vergangenen Exzesses und gegenüber deren Nachkommen tatsächlich verbindet, vielleicht das Bewusstsein spezieller Pflichten, jedenfalls die Rücksichtnahme auf historisch begründete Verletzbarkeiten. Ist diese Scheu dann etwas so Opakes, dass sie einer Tabuisierung zugeschrieben werden kann? Ist sie eine neurotisch erzeugte affektive Hemmung, eine Verklemmung, gar Symptom eines Verhängnisses? Sie ist das transparente Ergebnis einer Reflexion auf das, was für die Wiederherstellung unserer Selbstachtung und eines zivilisierten Zusammenlebens unabdingbar war."

"Die semantische Verwirrung wird dadurch gesteigert, dass der Begriff 'Tabu' auf das Phänomen einsichtig erworbener Formen zivilen Umgangs [..] nicht passt." meint Habermaß und erklärt damit den "Tabubrecher" zum Trottel, der beim "kollektiven Lernprozeß" wohl in der letzten Bankreihe saß und den Unterricht verschlafen hat. Aber schlimmer noch, der "Tabubruch" ist für Habermas nicht nur Zeichen unzivilisierter Zurückgebliebenheit, er ist offenbar auch noch eine Gefahr für den zivilisierten Fortschritt: "Nehmen wir einmal an, dass sich mit einem solchen Wandel der Gesinnung eine besondere Sensibilität gegenüber den Opfern eines vergangenen Exzesses und gegenüber deren Nachkommen tatsächlich verbindet, vielleicht das Bewusstsein spezieller Pflichten, jedenfalls die Rücksichtnahme auf historisch begründete Verletzbarkeiten. Ist diese Scheu dann etwas so Opakes, dass sie einer Tabuisierung zugeschrieben werden kann? Ist sie eine neurotisch erzeugte affektive Hemmung, eine Verklemmung, gar Symptom eines Verhängnisses? Sie ist das transparente Ergebnis einer Reflexion auf das, was für die Wiederherstellung unserer Selbstachtung und eines zivilisierten Zusammenlebens unabdingbar war.

Wer die Errungenschaft eines solchen Zuwachses an liberaler Gesinnung zur Folge eines Tabus erklärt, das es abzuschütteln gilt, will Regression unter dem Deckmantel einer augenzwinkernd in Anspruch genommenen Emanzipation."

Mit dieser totalitären Logik erledigt Habermas im Grunde jede Kritik an bestehenden und vom Kritisierten als gut empfundenen bzw. akzeptierten Umständen als Regressionsversuch, der sich in diesem Bild dann allein schon durch seine unterstellte Rückwärtsgewandtheit deklassieren würde.

Damit schafft Habermas Kritik als solche ab - und das ist nun so gar nicht Ausdruck eines Lernprozesses, sondern einfach nur totalitärer Dogmatismus, den man, würde man es darauf anlegen, sogar als Ausdruck antisemitischer Ressentiments von Jürgen Habermas anprangern könnte.

Indem er Kritik nahezu pauschal abqualifiziert als unzivilisiert, bedient er sich eines Vorurteils des klassischen Antisemitismus, der Kritik als typisch jüdisch ablehnte ...

Und prompt sitzt Jürgen Habermas in der selbstgestellten Falle, aus der er auch mit Ablenkungsmanövern wie dem Herumreiten auf dem Begriff politcal correctness nicht herauskommt. Aber, wie gesagt, ich halte seinen kleinen Aufsatz nicht gerade für ein Meisterwerk ...

MfG
tw_24