Thema: Stichtage
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25. March 2006, 16:00   #110
Jules
 
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20. März 1995: Giftgasanschlag in der Tokioer U-Bahn durch die Aum-Sekte

Ōmu Shinrikyō (jap. オウム真理教, dt. Om-Lehre der Wahrheit), in der Presse häufig als Aum-Sekte bezeichnet, ist eine japanische Sekte, die durch einen Giftgasanschlag mit Sarin in der U-Bahn von Tokio am 20. März 1995 weltweit bekannt wurde.

Der Eigenname Aum ist im Deutschen irreführend: Um das japanische オウム (ōmu, auf deutsch eigentlich Om, das bekannteste hinduistische Mantra) im Englischen korrekt aussprechen zu können, wurde es nach dem Attentat in der englischen Presse Aum geschrieben – was damals von deutschen Meldungen unverändert übernommen wurde und hierzulande meistens falsch als a-um ausgesprochen wird.

Chronik der Sekte

1984

Der stark sehbehinderte japanische Naturheiler Chizuo Matsumoto (*1955 auf Kyūshū) gründet unter dem Namen Ōmu Shinsen no Kai einen Verein für Yoga-Übungen, die psychische Kräfte aktivieren sollen.

1987

Nachdem er laut eigenen Angaben ein spirituelles Erlebnis in Indien hatte, ändert Chizuo Matsumoto seinen Namen in Shōkō Asahara. Der Verein wird in Ōmu Shinrikyō (Om-Lehre der Wahrheit) umbenannt und nimmt allmählich die Form einer religiösen Gruppierung an. Im August wird in Kamikuishiki am Fuße des Berges Fuji eine eigenständige, von der Außenwelt abgeschottete Aum-Gemeinde gegründet, in der neben Wohngebäuden zunehmend Fabriken, Labors und Chemiebetriebe entstehen. Sie ist gleichzeitig das Sekten-Hauptquartier. Die Sekte expandiert rasch, in mehreren japanischen Städten werden Zweigstellen gegründet. Im Herbst wird ein Büro im New Yorker Stadtteil Manhattan eröffnet.

1989

Im August erkennt die Präfektur Tokio die Sekte als ordentliche Glaubensgemeinschaft an, obwohl Eltern von Mitgliedern erste Hinweise auf ungeklärte Machenschaften innerhalb der Sekte geben. Im November wird in Yokohama der japanische Rechtsanwalt Tsutsumi Sakamoto, der Angehörige von Aum-Anhängern vertritt, zusammen mit seiner Frau und seinem einjährigen Sohn getötet, nach dem Stand der Ermittlungen auf Anordnung von Asahara.

1990

Asahara gründet unter dem Namen Shinritō eine politische Vertretung der Aum-Sekte und kandidiert zusammen mit 24 Anhängern für das japanische Parlament. Die Wahl gerät für ihn zum Desaster (er erhält in seinem Wahlkreis nur 0,4 % der Stimmen), woraufhin er den Behörden Wahlbetrug vorwirft. Nach der Wahl hat die Sekte finanzielle Probleme, viele Mitglieder steigen aus. Gleichzeitig werden die ersten Forschungen für die Produktion biologischer Kampfstoffe aufgenommen, ein Anschlag auf das Parlamentsviertel in Tokio im April schlägt jedoch fehl.

1991

Die Sekte zählt inzwischen ca. 7000 Mitglieder (auch in den USA und in Deutschland, wo es unter dem Namen „Buddhismus- und Yoga-Center“ eine Niederlassung in Bonn gibt). Diverse Einrichtungen wie Schulen und ein Krankenhaus werden gegründet, die Aum-Gemeinde in Kamikuishiki wird ausgebaut.

1992

Asahara besucht mit einer Sektendelegation Russland und wird vom damaligen Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow empfangen. Die Sekte bemüht sich dort vor allem um Wissenschaftler und zählt innerhalb kurzer Zeit über 10.000 russische Anhänger.

1993

Asahara datiert den Weltuntergang auf 1996-1998. Die Sekte beginnt mit der Massenproduktion von AK-74-Sturmgewehren.

1994

Erste erfolgreiche Herstellung von Sarin (ein Nervengas). Am 27. Juni erfolgt in der Stadt Matsumoto ein Sarin-Anschlag auf die Richter eines Grundstücksprozesses, in den die Sekte verwickelt ist. Bei diesem ersten zivilen Sarin-Attentat der Welt sterben 7 Menschen, die Sekte gerät jedoch zunächst nicht in Verdacht.

1995

Am 20. März erfolgt ein Giftgasanschlag auf die U-Bahn in Tokio (s. Beschreibung unten). Mit gefälschten Flugblättern soll der Verdacht auf eine Konkurrenzsekte gelenkt werden, was aber nicht gelingt. Die Polizei geht massiv gegen die Aum-Sekte vor und verhaftet zahlreiche Mitglieder. Zu diesem Zeitpunkt besitzt die Sekte 280 Grundstücke, der Wert des mit der Sekte verbundenen Konzerngeflechts wird auf ca. 200 Millionen US-$ geschätzt. Am 23. April wird Hideo Murai, „Wissenschafts- und Technologieminister“ der Sekte, vor der Tokioter Sektenniederlassung vor laufenden Fernsehkameras von einem 29-Jährigen erstochen. Sektengründer Shōkō Asahara wird am 16. Mai festgenommen.

Die Sekte entschuldigt sich öffentlich für das Giftgasattentat und sagt sich zwar offiziell von ihrem Gründer los, hält allerdings intern weiterhin an seinen Lehren fest. Tatsuko Muraoka wird zur neuen Repräsentantin der Aum-Sekte.

1997

Ein Sicherheitsausschuss beschließt, die Sekte nicht zu verbieten, da keine Gefahr mehr von ihr ausgeht.

2000

Die Sekte benennt sich im Januar in Aleph um. Sie steht ab jetzt unter ständiger Überwachung durch die Staatsbehörden und hat noch ca. 1500-2000 Anhänger.

2004

Die japanische Polizei durchsucht am 16. Februar bei der größten Razzia seit der Umbenennung der Sekte elf ihrer Anwesen; die Mitgliederzahl wird von offizieller Seite auf 1.650 in Japan und 300 in Russland geschätzt. Sektengründer Shōkō Asahara wird am 27. Februar wegen der Giftgasanschläge und wegen Beteiligung an 27 Morden zum Tode verurteilt. Dieses Urteil ist das letzte von insgesamt 189 im Zusammenhang mit den Verhaftungen nach dem U-Bahn-Attentat, darunter 12 Todesurteile (von denen bisher aber noch keines vollstreckt wurde).

Die Lehre

In Japan sind mittlerweile 180.000 verschiedene Religionsgemeinschaften staatlich anerkannt. Nach den „klassischen“ buddhistischen und shintoistischen Sekten und anderen jüngeren Kultgruppen kam es ab Mitte der 1970er-Jahre zu einer dritten Gründungswelle von Glaubensgemeinschaften, zu denen auch die Aum-Sekte gehört.

Ihre Lehre ist geprägt von Weltuntergangsverkündigungen und eine Mischung aus Pseudowissenschaft, Nostradamus-Weissagungen, esoterischem Buddhismus und chiliastischem Christentum; aber auch Elemente aus dem Foundation-Zyklus des Science-Fiction-Schriftstellers Isaac Asimov werden verwendet. Die zentrale Gottheit für die Sekte ist der Hindugott Shiva, und wahre Erleuchtung ist nur innerhalb der streng abgeschlossenen Sektengemeinschaft möglich. Die „äußere Welt“ wird als korrupt und verdorben betrachtet und muss notfalls gewaltsam bekämpft werden. Einer der zentralen Punkte der Aum-Doktrin ist die kontroverse buddhistische Vorstellung von poa: Unter bestimmten Bedingungen kann demnach ein Mord sowohl das Opfer als auch den Täter der Erleuchtung näher bringen.

Zahlen und Fakten zum Sarin-Anschlag in Tokio

Am Montag, dem 20. März 1995, wurden zur morgendlichen Hauptverkehrszeit in den Pendlerzügen von drei Tokioter U-Bahn-Linien in Zeitungspapier eingewickelte Kunststoffbeutel deponiert, die das Nervengift Sarin enthielten. Unmittelbar vor dem Aussteigen bohrten die Täter mit Regenschirmen Löcher in die Beutel, um das flüssige Sarin freizusetzen. Die austretenden Dämpfe verbreiteten sich in 15 U-Bahn-Stationen; die ersten Notrufe gingen bei den Sicherheitsbehörden um 08:17 Uhr Ortszeit ein. Durch den Anschlag starben insgesamt 12 Menschen (neun sofort, einer später am selben Tag, zwei weitere nach einigen Wochen), und es gab über 5.500 Verletzte (viele davon schwer).

Verurteilungen

Nach dem Anschlag wurden folgende zwölf Aum-Mitglieder zum Tode verurteilt (alle haben Berufung eingelegt):
22. Oktober 1998: Kazuaki Okazaki, Sekten-Gründungsmitglied, u. a. für den Mord an Rechtsanwalt Sakamoto 1989 verantwortlich. Das Urteil wurde am 7. April 2005 vom obersten japanischen Gericht bestätigt und ist somit rechtskräftig.
30. September 1999: Masato Yokoyama, wegen Sarin-Freisetzung in der U-Bahn
29. Juni 2000: Yasuo Hayashi, wegen Sarin-Freisetzung in der U-Bahn
17. Juli 2000: Toru Toyoda, wegen Sarin-Freisetzung in der U-Bahn
17. Juli 2000: Kenichi Hirose, wegen Sarin-Freisetzung in der U-Bahn
25. Juli 2000: Satoru Hashimoto, u. a. für den Mord an Rechtsanwalt Sakamoto 1989
28. Juli 2000: Kiyohide Hayakawa, u. a. für den Mord an Rechtsanwalt Sakamoto 1989
26. Juni 2002: Tomomitsu Niimi, u. a. für den Mord an Rechtsanwalt Sakamoto 1989
11. Oktober 2002: Seiichi Endo, Virologe, u. a. wegen Giftgasherstellung
29. Oktober 2003: Tomomasa Nakagawa, Sektenarzt, u. a. wegen Beteiligung an 24 Morden
30. Januar 2004: Masami Tsuchiya, Chemiker, wegen Giftgasherstellung
27. Februar 2004: Shōkō Asahara, Sektengründer, u. a. wegen Beteiligung an 27 Morden