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8. July 2002, 18:13   #29
tw_24
 
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So, da will ich noch einmal auf ein paar Argumente eingehen, die hier sicher nicht zu Unrecht eingebracht wurden.

Das Urteil des Berliner Oberverwaltungsgerichts fordert eine absolute weltanschauliche Neutralität der Bildungseinrichtung Schule. Dieser Forderung kann ich mich anschließen, und daher halte auch ich das Urteil mit dieser Begründung für richtig.

Zitat:
Zitat von jupp11
Ein überzeugter Kommunist evtl. a' la tw_24 wird im Sozialkundeunterricht den Lehrstoff so vermitteln, wie er ihn versteht und empfindet.
Ob ich nun überzeugter (oder gar überzeugender) Kommunist bin, würde ich zwar bezweifeln, doch das ist hier nebensächlich. Der Einwand jedenfalls stimmt. Ein Lehrer, der sich einer Weltanschauung verschrieben hat, kann in manchen Fächern sicher für diese werben - er muß dies nicht tun, er darf das nicht tun.

Doch ist diese Forderung überhaupt realistisch?

Einerseits merkt der weltanschaulich engagierte Lehrer es vielleicht gar nicht, daß er zum Beispiel durch ab- oder aufwertende Wortwahl durchaus Wertvorstellungen vermitteln könnte, er quasi unbewußt seine Neutralitätspflicht verletzt. Andererseits sind in solchen Fällen die Aufsichtsbehörden auch nicht ganz blöd - trägt eine Lehrerin ein Kopftuch im Unterricht, würden sie wohl ganz besonders aufmerksam darüber wachen, ob die Lehrerin ihre Pflichten einhält. Im aktuellen Fall jedoch wird der Fereshta Ludin gar nicht die Gelegenheit gegeben, ihr unterstelltes wahres Ich zu zeigen. Mit dem Kopftuch, das für sie Ausdruck ihrer eigenen Religiösität ist, kennzeichnet sie sich doch geradezu vorbildlich freiwillig als "Risikofaktor".

Nicht zuletzt gibt es ja auch Lehrpläne, an die die Lehrer gebunden sind - Fereshta Ludin macht, obwohl ich trotz umfangreicher Recherche nicht herausgefunden habe, für welche Fächer sie sich interessierte :-(, auch deutlich, daß sie in der Lage ist, zwischen der "Privatsache" Weltanschauung und ihrem Beruf eine Trennlinie zu ziehen, indem sie bereit war, Inhalte zu lehren, die ihrer Weltsicht vielleicht widersprechen. Allerdings möchte ich nicht ausschließen, daß eine solche Selbstverleugnung sicher auch Grenzen hätte, doch darüber wacht ja eine Behörde.

Zitat:
Zitat von jupp11
...mir gehen, wie oben schon gesagt, auch die Kreuze in den Klassenzimmern auf die Nerven.
Und da kommen wir zu der Frage, ob die Institution Schule - ganz unabhängig von der Lehrerschaft - wirklich weltanschaulich wertneutral ist oder sein kann.

Zunächst einmal haben wir eine Menge Kultusminister (und -innen), die über Lehrinhalte bestimmen und von einer Partei gestellt werden, die weltanschaulich alles andere als neutral ist, sich durch das "C" im Namen allerdings ganz ähnlich kennzeichnen wie Fereshta Ludin es mit ihrem Kopftuch tut.

Dazu kommen dann noch diverse eindeutig christliche Feste oder Feiertage, die mit freien Tagen oder Ferien begangen werden und teilweise sogar namensgebend sind (Weihnachtsferien, Osterferien etc.), während die "heiligen" Daten anderer Weltanschauungen fast gänzlich ignoriert werden. Die Institution Schule "wirbt" auf diese Weise unterschwellig für eine ganz bestimmte Weltanschauung - und doch erweisen sich viele Schüler als werberesistent.

Doch würde nun das Berliner Urteil wirklich konsequent in die Praxis umgesetzt - und nicht nur im Fall Fereshta Ludin -, so müßte sich auch institutionell wohl einiges ändern. CDU/CSU-Minister dürftem niemandem mehr vorschreiben, was er zu lehren oder zu lernen hat, Ferien müßten auf weltanschaulich wirklich neutrale Termine verlegt werden - und die Kirchensteuer dürfte auch nicht mehr vom Staat kassiert werden, obgleich das mit Schulen erst einmal nicht viel zu tun hat, aber deutlich macht, daß die gelobte Trennung von Staat und Kirche zumindest teilweise nur auf geduldigem Papier steht.

Die Institution Schule ist im gegenwärtigen Zustand weltanschaulich nicht wertneutral, sie kann es in meinen Augen auch gar nicht sein (allein schon durch die Verpflichtung der Lehrer auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes), doch trotzdem funktioniert sie doch recht gut (von PISA mal abgesehen) - Weihnachtsferien erschaffen keine inquisitorischen Fanatiker, die auf Hexenjagd alles umlegen wollen, was rote Haare hat, und der Mai-Feiertag - "Tag der Arbeit" - sorgt auch nicht unbedingt dafür, daß die Mitgliederzahl "proletarischer" Jugendorganisationen merklich steigt.

Zitat:
Zitat von mhritter
In unserem System ist es Gott sei Dank so, dass Straat und Religion getrennt ist. Dadurch ist es auch möglich, dass im Unterricht der Faktor Religion ausgeklammert werden kann. Sei es dass man sein Kind nicht am Religionsunterricht teilnehmen läßt, oder sei es, das es in einen speziellen Religionsunterricht (Altkatholisch, Evangelisch AB oder HB, Islamischen Unterricht, etc.) geht. Die sogenannte Zwangsbeglückung gibt es jedoch in unserem System nicht.
Weihnachtsferien sind "Zwangsbeglückung", und in meinen Augen stellt die Bereitstellung von Unterrichtsräumen für bestimmte Arten des Religionsunterrichts durchaus eine staatliche Stellungnahme für diese Religionen dar. Christlicher Religionsunterricht findet in staatlichen Schulen statt, andere anerkannte Weltanschauungen dagegen müssen auf eigene Immobilien ausweichen - das ist kein Zeichen weltanschaulicher Neutralität von Schulen. (Nebenbei, was ist "Evangelisch AB oder HB"? Da besteht bei mir Aufklärungsbedarf ;-).)

Und da soll nun ausgerechnet ein Kopftuch (laut taz unterrichten in Deutschland übrigens noch vier andere bekennende Kopftuchträgerinnen) quasi den weltanschaulichen SuperGAU in der Schule darstellen?

Das Kopftuch sei von der offiziellen Religionsauslegung nicht zwingend vorgeschrieben, wird gesagt. Dann müßte aus der Sicht der Betrachter doch genau dieses Tuch weltanschaulich unbedeutend und ungefährlich sein. Doch sie haben trotzdem eine beinahe panische Angst vor diesem "offiziell" wertneutralen Kleidungsstück. Warum?

Wir - oder eben die werten Richter - projizieren unsere/ihre negativen Vorstellungen, die wir/sie von religiös-fundamentalistischen Regimes haben, in denen Mädchen anscheinend nicht einmal Schulen besuchen dürfen, auf dieses Kopftuch einer anscheinend doch recht gebildeten jungen Frau und machen es dadurch wieder zu einem religiösen Symbol, das es angeblich doch gar nicht ist, weil es ja nicht zwingend vorgeschrieben sei. Das Kopftuch von Fereshta Ludin wird damit als ein rein persönliches Kleidungsstück betrachtet, zugleich aber eine Bedeutung in dieses Stück Stoff hineininterpretiert, die es angeblich doch gar nicht hat.

Zitat:
Zitat von peet
Was mich naemlich irgendwie belustigt, ist, dass wenn diese Frau ihr Kopftuch ablegt sie wohl tragbar ist. Glaubt denn jemand, dass mit dem Ablegen eines aeusseren Kennmerkes jemand seinen Glauben oder seine innerliche Ueberzeugung verliert.
Genau diese Frage läßt eigentlich alle Kopftuchgegner mächtig alt aussehen. Würde Fereshta Ludin ohne Kopftuch im Unterricht anderes erzählen als mit Kopftuch?

Zitat:
Zitat von Payne Hamiller
Ich möchte nicht wissen was passiert wäre, hätte bei den Taliban ein Katholik mit einem Kreuz um den Hals versucht ihre Kinder zu unterrichten.
Der Katholik wäre vom Unterricht suspendiert worden - wie Fereshta Ludin in der in dieser Frage durchaus taliban-ähnlichen Bundesrepublik Deutschland, in der ihr freilich nicht die Steinigung droht - immerhin.

Grundsätzlich begrüße ich die Entscheidung des Berliner Oberverwaltungsgerichts durchaus. Doch die Idealwelt, die sich die Richter wünschen, gibt es nicht. Die Institution Schule ist weltanschaulich nicht neutral, schon gar nicht wertneutral ist der Alltag, den Schüler erleben, ein Kopftuch einer ansonsten tadellosen Lehrerin wäre daher eher eine Bereicherung als eine Indoktrination, zumal Fereshta Ludin sicher auch nicht zu einer revolutionären Veränderung der aktuellen wirtschaftlichen Ordnung aufrufen würde. Da wäre ich wohl gefährlicher als sie, aber ich bin ja kein Lehrer ;-).

Zitat:
Zitat von Mandy Sue
Ich habe es GRÜNDLICH satt, dass man uns Deutschen ständig Intoleranz vorwirft, ob es Ausländer sind, die nur ihre eigenen Ziele im Kopf haben oder Leute wie tw_24, die die Realität nicht mehr erkennen können.
Ich als Deutscher war gestern mächtig tolerant; da habe ich nämlich einen Kameruner meine Restaurant-Rechnung bezahlen lassen, der auch noch so großzügig war/ist, meine französischen Sprachkenntnisse völlig umsonst aufzubessern ;-). Insofern erlebe ich vielleicht wirklich eine andere Realität als Du, Mandy Sue, aber meine Realität ist deshalb noch lange keine Illusion. Und das sage ich auch als "Ossi", der mit (dem ;-)) Cli in der gleichen Stadt lebt, aber eben in einem Stadtteil, in dem Deutsche, Vietnamesen, US-Amerikaner, Angolaner, Kameruner, Türken, Bulgaren usw. vergleichsweise konfliktfrei miteinander auskommen, wenngleich ich nicht verschweigen will, daß mein gestriger Gastgeber das von mir vorgeschlagene Restaurant wegen seiner Hautfarbe lieber nicht betreten wollte, so daß wir halt anderswo speisten. (Lustigerweise landeten wir vor ein paar Wochen zusammen auf der Geburtstagsfeier eines Bekannten, die als NPD-Besäufnis endete [von ca. 35 Gästen waren 25 NPD-Mitglied], bei dem er, der Neger, durchaus positiv im Mittelpunkt stand ["Du denkst ja wie wir!"], während sich für mich niemand wirklich interessierte :-(.)

Fereshta Ludin wollte Lehrerin an einer deutschen Schule werden - ihre Zeugnisse waren auch sehr gut -, doch wegen des Kopftuchs stolperte sie über ihre guten Leistungen. So sehr ich Verständnis habe für alle Gegenargumente, es spricht jedoch nichts dagegen, daß Fereshta Ludin eine gute Lehrerin hätte werden können, wenn ihr nicht die xenophobe Intoleranz deutscher Richter im Wege stünde, deren Entscheidung zwar nicht falsch ist, aber auch nicht richtig, da die alltägliche Realität ausgeblendet wird, die trotzdem die christliche Religion ganz klar als Vorbild präsentiert.

Zitat:
Zitat von jupp11
Zumindest in den ersten Jahren sind Lehrer Menschen, welche die Prägephase der Kinder doch sehr beeinflussen können. Ich erinnere mich an unsere Tochter (Grundschule gestern beendet), die sowohl im Kindergarten, als auch in der Schule ein gutes Verhältnis zu ihrer Gruppenleiterin/Klassenlehrerin gesucht hat.
Diese Personen haben das Kind beeinflusst. Das an sich finde ich gut, aber in religiösen Dingen möchte ich das nicht haben.
Mein DDR-deutscher Mathelehrer hat mich mächtig beeinflußt. Er blieb stur auf Zahlen und Variablen fixiert und ignorierte zum Beispiel völlig, daß er auch den Sohn eines Pfarrers unterrichtete (, den er eigentlich vermutlich diskriminieren sollte). Er war im besten Sinn wertneutral. Und deshalb stehe ich wohl auch noch heute mit ihm im Kontakt. Er, Kriegskind, hielt nicht viel von Armeen, er war kein Freund der NVA, aber er hetzte auch nicht gegen meinen christlichen Banknachbarn, der heute als Pfarrer irgendwo im Norden Deutschlands aktiv ist. Diesem Lehrer ging es um die Mathematik, alles andere ignorierte er weitgehend. Und deshalb treffe ich mich gelegentlich auch noch mit ihm, weil wir einfach Freunde sind, auch wenn da die Altersunterschiede riesig sind.

MfG
tw_24