Thema: Stichtage
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24. December 2005, 13:35   #24
Jules
 
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24. Dezember 1914: An einigen Frontabschnitten kommt es zu einem Weihnachtsfrieden

Der Weihnachtsfrieden (engl. Christmas Truce, dt.: Weihnachtswaffenstillstand bzw. Weihnachtswaffenruhe) war ein von der Befehlsebene nicht autorisierter Waffenstillstand während des Ersten Weltkrieges am 24. Dezember 1914 und an den folgenden Tagen. Er fand an weiten Teilen der West- (vor allem zwischen Deutschen und Briten) aber auch der Ostfront statt. Der Weihnachtsfrieden des Jahres 1914 bezeichnet heute vor allem die Ereignisse an der Front zwischen Messines und Neuve Chapelle, an der sich Deutsche und Engländer gegenüberstanden.

Hintergrund

Die Ereignisse des Jahres 1914 sind vor allem in der britischen kollektiven Erinnerung gespeichert und werden oft in einer romantischen Verklärung, verkürzt und ungenau überliefert. Die Realität kann leider nicht mehr so einfach wiedergegeben werden. Berichte der Geschehnisse sind oft unzusammenhängend oder widersprechen sich, manche Überlieferungen wurden im Laufe der Zeit ausgeschmückt, und die offiziellen Stellen ergeben kaum verwertbare Informationen. Einen grundlegenden Gedanken der am Waffenstillstand teilnehmenden Soldaten kann man heute jedoch immer noch nachvollziehen: die Suche nach Gemeinschaftlichkeit und Humanität im Spannungsfeld zwischen einem der wichtigsten christlichen Feste und einem menschenverachtenden Krieg.

Auslösende Elemente des Waffenstillstandes

Viele Soldaten aller Kriegsparteien waren 1914 enthusiastisch und voller Siegesgewissheit als Freiwillige in den Krieg gezogen und hatten gehofft, bis Weihnachten wieder zu Hause zu sein. Der Krieg, der als kurzer Feldzug versprochen und propagiert worden war, hatte alle bisher geführten und bekannten Muster „ritterlicher“ Schlachten des 19. Jahrhunderts durchbrochen und war schon während der ersten Monate zu einem industrialisierten Töten geworden, bei dem man durch massiven Einsatz von Schnellfeuergewehren, Bajonetten, Minen, Artillerie und Maschinengewehren auf die komplette physische Vernichtung allen gegnerischen Lebens zielte.

24. Dezember – Feinde im Niemandsland

Der Morgen des 24. Dezember brachte einen klaren Tag. Der ständige Regen hatte aufgehört, an einigen Stellen des Sektors wurde zwar noch geschossen, an den meisten jedoch war eine unwirkliche Stille eingekehrt, die nur durch das Zurufen der sich gegenüberliegenden Soldaten unterbrochen wurde. Erste mutige Männer riefen den Gegner an, ihre Gefallenen zu bergen. Es wurde nicht geschossen, als sie unbewaffnet ins Niemandsland vorgingen. Nachdem die Toten beerdigt waren, begannen die Soldaten miteinander zu sprechen, vor allem auf Englisch, da viele Deutsche durch die vom Kaiser propagierte Nähe zu England die Sprache gelernt oder sogar in Großbritannien gearbeitet hatten.

Entgegen der verbreiteten Auffassung, nur „einfache“ Soldaten hätten aus Protest, weil sie sich als „Kanonenfutter“ fühlten, ihre Waffen niedergelegt, nahmen auch viele Offiziere an den Ereignissen teil und führten stellenweise sogar aktiv Verhandlungen. Einer dieser Offiziere war Leutnant Kurt Zehmisch vom 134. Infanterieregiment, ein Französisch und Englisch sprechender Lehrer aus Weischlitz in Sachsen, der in seinem Tagebuch notierte, er habe seinen Leuten befohlen, während der Weihnachtsfeiertage nicht auf den Gegner zu schießen und sie hätten Kerzen und Tannenbäume auf die Gräben zu stellen. Weiter schrieb er, dass die Briten durch Pfeifen und Klatschen ihre Zustimmung mitteilten, und dass er – wie die meisten seiner Kameraden – die ganze Nacht wach geblieben seien. Am folgenden Tag hielt Zehmisch fest, dass einige Briten mit einem Fußball aus ihrem Graben gekommen seien. Sie hätten hin und her gekickt und der kommandierende englische Offizier und er selbst der übereinstimmenden Meinung gewesen seien, dass all dies unvorstellbar und unglaublich wunderbar sei.

Viele kommandierende Generale auf beiden Seiten hingegen, allen voran der Chef des BEF, Sir John French, erließen scharfe Disziplinierungsbefehle gegen die eigene Truppen. Andere hingegen betrachteten die Ereignisse eher gelassen und in der standhaften Überzeugung, dass nach Weihnachten der Krieg weiter ginge. Erstaunlich ist, dass die Hierarchien beider Kriegsparteien auf die Ereignisse ähnlich ambivalent reagierten.

Das Ende des Waffenstillstandes

Man geht heute davon aus, dass mindestens 100.000 Soldaten der an der Westfront kämpfenden Parteien, an dem Waffenstillstand teilgenommen haben, hauptsächlich Briten und Deutsche. Der Waffenstillstand und die Verbrüderungen wurden vor allem am 23. und 24. Dezember 1914 beobachtet, vereinzelt waren längere Feuerpausen zu beobachten, einige sogar bis in den Januar 1915 hinein. Wie es die soldatische Tradition des 19. Jahrhunderts vorschrieb, gab es an weniger bedeutsamen Sektoren der Front auch inoffizielle und kurze Abmachungen zur Pflege der Verwundeten und Bergung der Toten, die aber nie in den Berichten der Armeeführungen auftauchten.

Der allgemeine Waffenstillstand endete an einigen englischen Abschnitten erst am 26. Dezember („Boxing Day“), an bestimmten schottischen am Neujahrstag, da dies von den schottischen Soldaten als ein besonderes Fest gefeiert wurde. Der Bataillonsbericht von Captain J. C. Dunn und Captain C. I. Stockwell von den Royal Welch Fusiliers, welche die Fässer mit Bier bekommen hatten, kann als authentisch und beispielhaft gelten: Um 08h30 wurden drei Schuss in die Luft gefeuert und die Engländer hissten eine Flagge mit der Aufschrift „Merry Christmas“. Auf der anderen Seite der Front erschien ein deutscher Hauptmann, der ein Tuch in die Höhe hielt, auf dem „Thank you“ geschrieben stand. Beide salutierten und gingen in ihre Gräben zurück. Ein deutscher Soldat schoss zweimal in die Luft, danach war wieder Krieg.

Konsequenzen

Auf beiden Seiten der Front hatte der Waffenstillstand kein disziplinarisches Nachspiel. In der deutschen Presse wurde es niemals erwähnt, obwohl die Ereignisse durch entsprechende Aufzeichnungen der OHL belegt sind. Die englische und französische Berichterstattung war freizügiger, jedoch wurde das Ausmaß auf eine kleine Verbrüderung an einem unwesentlichen Frontabschnitt reduziert.

Weihnachten 1915 gab es wiederum Versuche der Truppen, das Geschehen des Vorjahres zu wiederholen. Es wurde allerdings diesmal von den Befehlshabern unter Androhung von Kriegsgerichtsverfahren nicht mehr geduldet. Ab 1916 gab es schließlich auch die inoffiziellen, kleinen Waffenstillstände zwischen den Gegnern nicht mehr. Das Niemandsland war zu einer ständigen Kampfzone geworden.

Interpretation des Geschehenen

Die Bedeutung dieses Waffenstillstands wurde nach dem Weltkrieg vor allem in England lange und heftig diskutiert. Ein bewegendes Urteil lieferte der Teilnehmer Murdoch M. Wood 1930 vor dem britischen Parlament, als er sagte, dass die Soldaten wohl niemals wieder zu den Waffen gegriffen hätten, wäre es nach ihnen gegangen.

Der Weihnachtsfrieden kann als letztes, kurzes Aufbäumen einer untergehenden Zeit und als zum Scheitern verurteilter Versuch der Menschlichkeit im Krieg interpretiert werden, wobei die Rolle christlicher Glaubensvorstellungen schwer einzuschätzen ist. Der Weihnachtsfrieden wurde alsbald Gegenstand von Legendenbildung und Mythologisierung, so dass die Fakten hinter den jeweils propagierten Idealen fast verschwunden sind.


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