Thema: Stichtage
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9. March 2008, 09:26   #68
Jules
 
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08. März 1923: Walter Jens wird in Hamburg geboren

Walter ist ein kränkliches Kind. Schon mit zwei Jahren leidet er an schweren Asthmaanfällen. Ein Viertel seiner Schulzeit verbringt er in Sanatorien. Das Leiden ist für Walter Jens, der am 8. März 1923 in Hamburg geboren wird, auch ein Glück: So bleibt ihm der Drill in den Jugendorganisationen der Nazis ebenso erspart wie der Kriegsdienst. Stattdessen muss er als "Luftschutzausbilder" Hafenarbeitern und Prostituierten zwischen Gänsemarkt und St. Pauli die Brandbekämpfung nach Bombenangriffen beibringen und kann noch während des Krieges in Tübingen ein Studium der Altphilologie beginnen. Die Universitätsstadt wird Walter Jens' zweite Heimat. Hier lernt er als junger Dozent 1949 die Hamburgerin Inge kennen, die er zwei Jahre später heiratet. Er nimmt als Kritiker an den Treffen der Literaten der "Gruppe 47" teil, schreibt selbst Romane, Essays und Hörspiele. 1963 richtet die Universität Tübingen eigens für ihn einen Lehrstuhl für Rhetorik ein.

Die Redekunst ist für Jens keine neutrale Technik, sondern Ausdruck demokratischer Haltung. Der Bildungsbürger und gläubige Protestant Jens ist zugleich ein politischer Mensch. In der Bundesrepublik entwickelt er sich zu einer Art Universal-Intellektuellen. Seine Arbeit ist weit gespannt: Einmal übersetzt er das Neue Testament, ein anderes Mal hält er als erklärter Fußballfan eine Rede über die Geschichte des Deutschen Fußballbundes, die den Anstoß dazu gibt, dass der DFB seine Rolle im "Dritten Reich" aufarbeitet. 1983 nimmt das Ehepaar Jens an der Blockade des US-Militärstützpunkts Mutlangen teil, um gegen die Nato-Nachrüstung mit Atomwaffen zu protestieren. Die Aktion bringt Jens eine Verurteilung wegen "gemeinschaftlicher Nötigung" ein. Zehn Jahre später verstecken die Jens in ihrem Haus zwei amerikanische Deserteure, die nicht in den Irak-Krieg ziehen wollen.

Das öffentliche Bild von Walter Jens als "gutem Menschen von Tübingen" erhält 2003 einen Riss, als seine Mitgliedschaft in der NSDAP während des Studiums bekannt wird. Jens reagiert einsilbig, gibt an, er könne sich nicht mehr daran erinnern. In der Diskussion springt ihm sein ehemaliger Mitschüler Ralph Giordano bei. Der Schriftsteller erzählt, Jens habe ihm immer offen die Freundschaft erhalten, auch als Giordano als so genannter Halbjude die Schule verlassen musste. Jens hatte schon früher erklärt, er sei nie ein "aufrechter Antifaschist" gewesen, sondern nur unangepasst. Bald darauf wird es still um Walter Jens. Er leidet an einer Gefäßerkrankung, die auch das Gehirn befallen hat. "Es geht ihm ein bisschen traurig", sagt seine Frau.

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