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13. September 2002, 10:55   #11
lala
 
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Kaum ein anderer politischer Begriff besitzt eine solch bewegte Tradition als Reizwort in der öffentlichen Meinung wie das Wort Anarchie. Ursprünglich ein eher technisch verstandener Ausdruck zur Bezeichung von Führer- oder Herrschaftslosigkeit, diente das Wort schon bald den Mächtigen zur ideologischen Legitimierung ihrer Herrschaftsansprüche und später auch als rhetorischer Vorwand zur Diskreditierung und Kriminalisierung des politisch Andersdenkenden.

Ausgehend von einer kurzen historischen Betrachtung der unterschiedlichen Definitionen des philosophischen Begriffes Anarchie [1)], soll im folgenden die sich wandelnde Bedeutung des Wortes dokumentiert werden, die Ende des 18. Jahrhunderts zum Entstehen des politischen diffamierenden Schlagwortes Anarchist führte. Daran anknüpfend folgt eine abschließende Darstellung des Anarchieverständnisses derjenigen Sozialphilosophen und politischen Denker, die Ende des 18. bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts den Anarchismus theoretisch begründeten.



1. Der semantisch-philosophische Aspekt des Begriffes Anarchie


Der Begriff Anarchie leitet sich von dem griechischen Wort anarchia ab. Ursprünglich bedeutete 'anarchia' einfach die Negation von Ordnung, besonders von militärischer Ordnung durch Führertum. Homer (8. Jh. v.u.Z.) und Herodot (490 bis etwa 420/25 v.u.Z.) verwendeten den Begriff zur Beschreibung eines Zustandes "ohne Anführer" oder "ohne Heerführer", und bei Euripides (480-407 v.u.Z.) bezeichnet 'anarchia' "führerlose Seeleute".

Doch schon im alten Griechenland erlangte der Anarchiebegriff bald auch eine philosophische und politische Dimension. In der elementaren griechischen Philosophie des 5. Jhs. v.u.Z. wird das Adjektiv anarchisch (etwa von Parmenides [um 515-445]) zur Beschreibung des philosophischen Sachverhalts von 'Anfangs- und Endlosigkeit' (auch: Sinnleere) des 'Seins' verwendet. Diese eher neutrale philosophische Auslegung des Anarchiebegriffs wurde später im Mittelalter von einigen Kirchengelehrten (u.a. von Albert Magnus, Johannes Damascenus und Eusebius) aufgegriffen, aufgewertet und zur Beschreibung des "absoluten, anfangslosen Wesen Gottes" ("Aseität Gottes") benutzt.

Eine negative politische Dimension im Sinne von 'Verlust der gesetzlichen Ordnung' und 'politischem Chaos' erlangte der Begriff Anarchie bereits in der konservativen aristokratischen Parteisprache Athens des 4. Jhs. v.u.Z. Aristoteles (384-355 v.u.Z.), der den Begriff ebenso wie Platon im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Demokratie verwendete, definierte die Anarchie als einen "Zustand der Sklaven ohne Herren", der die Gefahr des Untergangs in Gesetzlosigkeit und Zügellosigkeit beinhalte. Und es war Platon (427-347 v.u.Z.), der die Formel von der Aufeinanderfolge von Aristokratie, Oligarchie, Demokratie, Anarchie und Tyrannei prägte, die im 19. Jh. von Alexis-Charles-Henry-Maurice Clérel de Tocqueville (1805-1859) u.a. mit geringer Veränderung wieder aufgegriffen wurde. Die Bedeutung von 'politischer Herrschaftslosigkeit' erlangte der Anarchiebegriff offensichtlich erstmals bei Xenophon (um 580-480 v.u.Z.), für den die anarchia das Jahr war, in dem es keinen archon (Herrscher) gab.

Nach Ansicht des libertären Historikers Max Nettlau scheint die bloße Existenz des griechischen Wortes "an-archia" darauf hinzudeuten, "daß Personen vorhanden waren, die bewußt die Herrschaft, den Staat verwarfen", und "erst als dieselben bekämpft und verfolgt wurden, haftete diese Bezeichnung an ihnen im Sinn der der bestehenden Ordnung gefährlichsten Rebellen." Und tatsächlich finden sich in der hellenistischen Philosophie (so bei den Stoikern, Hedonisten und Cynikern) Ideen, in denen ein 'herrschaftsfreies Gemeinwesen' befürwortet wird. Am radikalsten wurden diese freiheitlichen Anschauungen von Zenon (320-350 v.u.Z.), dem Begründer der Stoischen Schule, vertreten. Gegenüber den autoritären theokratischen Ideen Platons nahm Zenon vom Individuum ausgehend eine - aus heutiger Sicht - durchaus als libertär zu verstehende Gegenposition ein. Auch Aristipp[os] (um 435-366 v.u.Z.), der Sokrates-Schüler und Begründer des Hedonismus, scheint ein herrschaftsfreies Gemeinwesen befürwortet zu haben. Er dachte aber dabei, wohl ebenso wie Zenon, eher an eine "Anarchie" der Weisen.

Die alten Römer haben den Begriff Anarchie offensichtlich nicht gekannt, sondern benutzten an seiner Stelle Worte wie "Tumult" u.ä. In seiner lateinischen Form wurde der Begriff anarchia erst im Mittelalter geprägt und (wenn man von den o.g. Kirchengelehrten wie Albert Magnus u.a. absieht) überwiegend in seiner negativen Bedeutung benutzt. Ähnlich wie vor ihm Aristoteles und Platon definierte z.B. Niccolo Machiavelli (1469-1527), der Theoretiker des modernen weltlichen Machtstaates, den Begriff Anarchie als eine Entartungserscheinung der Demokratie. Für Machiavelli gibt es drei gute Herrschaftsformen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie, welche davon bedroht sind, in Tyrannei, Oligarchie und Anarchie zu degenerieren.

Der Humanist Erasmus von Rotterdam (1466-1536) betrachtete die Anarchie als eine ebenso negative, wenn nicht sogar als eine verwerflichere Tendenz wie die Tyrannei, die beide nur durch ein politisches Gleichgewicht aller Machtfaktoren im Staate überwunden werden könnten. Diese Bewertung der Anarchie als einer Degenerationserscheinung des Staates, der sogar die Tyrannei vorzuziehen sei, vertrat auch der französisch-schweizerische Reformator Jean (Johann) Calvin (1509-1564). Und der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1699) griff in seiner staatstheoretischen Schrift "Leviathan" den von Machiavelli geprägten Topus "Demokratie produziert Anarchie" erneut auf und kennzeichnete sie ebenfalls als eine Verfallsform politischer Herrschaft. In Deutschland war Friedrich Schiller 1789 in seinen Jenaer Vorlesungen über "Die Gesetzgebung des Lykurg und Solon" zu einer ähnlichen, wenngleich auch nicht gänzlich antidemokratischen Schlußfolgerung gelangt. Denn unter Verweis auf die Verfassung Solons vertrat Schiller die Auffassung, daß sich die Gefahr der Demokratie, in Anarchie auszuarten, durch "starke Zügel der Demokratischen Gewalt" vermeiden ließe.

Noch 1834 bewertete der deutsche liberale Staatswissenschaftler und Historiker Carl von Rotteck (1775-1840) die Anarchie als einen pathologischen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, "worin keine geregelte, als rechtmäßig erscheinende oder wenigstens einige Bürgschaft der Dauer gebende Gewalt besteht oder wirksam ist". Allerdings erfuhr der Begriff bei Rotteck eine gewisse Aufwertung, insofern er der Anarchie gegenüber der Despotie den Vorzug gab, denn "sie ist weit weniger grauenvoll und weit weniger trostlos als die Despotie, welche nicht nur die Gesellschaft (mittels Erdrückung des gesellschaftlichen Gesamtwillens durch den herrischen Einzelwillen) tödtet, sondern auch alle einzelnen Mitglieder der unters Joch gebrachten Gesellschaft rettungslos, weil wehrlos, der unersättlichen Gewalt preisgibt".

In dieser bereits positiveren Betrachtungsweise der Anarchie als des "kleineren Übels" gegenüber der Despotie war der Begriff bereits von dem Philosophen und Schriftsteller der Aufklärung Denis Diderot (1713-1784) benutzt worden. Es war der deutsche Kulturphilosoph und Schriftsteller der Romantik, Friedrich von Schlegel (1772-1829), der die Anarchie in seinen "Versuch über den Republikanismus" 1796 als "absolute Freiheit" bezeichnete, d.h. als ein im Gegensatz zur Despotie verstandenes Ideal, das "durch Annäherung erreicht werden kann." Drei Jahre zuvor hatte Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) in seinem "Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution", ohne den Ausdruck Anarchie explizit zu gebrauchen, die libertäre (oder auch - wenn man will - die "frühmarxistische") These vertreten, daß der Staat die Aufgabe habe, sich selbst überflüssig zu machen und ausdrücklich betont, daß die Menschheit sich diesem Ziel der Staatslosigkeit immer mehr nähert. Den Begriff Anarchie selbst verstand und benutzte Fichte dagegen noch in seiner negativen Bedeutung. So verurteilte er beispielsweise die Wirtschaftsordnung seiner Zeit als "Anarchie", da der Gewinn der Besitzenden auf dem "Raub" basiere. In einem ähnlichen Sinn verwandten später auch Pierre Joseph Proudhon und Karl Marx den Begriff Anarchie zur Kennzeichnung der Planlosigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Während jedoch Proudhon den Begriff ab 1840 eindeutig positiv als erstrebenswertes Gesellschaftsideal definierte, verwandete ihn Marx nahezu ausschließlich in seiner negativen Bedeutung.



2. Die Rezeption des Anarchiebegriffs in Deutschland


Der Begriff "Anarchie" in seinem ursprünglichen Sinn von "Herrschafts-" bzw. "Herrscherlosigkeit" wurde im deutschsprachigen Raum vermutlich erstmalig lexikalisch und zwar in der latinisierten Form Anarchia im Jahr 1661 von dem Stettiner Theologen und Lexikographen Johann Micraelius eingeführt. In der eingedeutschen Form wurde der Ausdruck Anarchie erstmals 1709 in dem von J. Christian Wächter in Leipzig herausgegeben "Commodes Manual oder Handbuch" erwähnt.

Eine anthropologische Dimension erlangte der Begriff Anarchie bei dem deutschen Lexikographen Scheidemantel, der sie in der "Deutschen Enzyklopädie" von 1778 als "eine dem Staat entgegengesetzte Sache" beschrieb, die sich so wie "die gleiche und ungleiche Gesellschaft voneinander unterscheiden." Nach Ansicht von Scheidemantel war diese Art der Anarchie nicht nur kennzeichnend für die prähistorische Urzeit, sondern "auch die alten Deutschen hatten in Friedenszeiten ein anarchisches Bündnis unter sich". Der aufklärerische Sprachforscher und Lexikograph Johann C. Adelung (1732-1806) sowie der Nationalökonom Johann H.G. von Justi (1705 o. 1720-1771) benutzten den Begriff Anarchie ebenfalls zur Beschreibung einer nicht explizit als negativ bewerteten Urform von vorstaatlicher Gemeinschaft und Gesellschaft. Und auch Immanuel Kant (1724-1804) definierte die Anarchie in seiner Schrift "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" zwar nicht als einen erstrebenswerten Zustand, aber er schilderte sie zumindest relativ neutral als "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt". Rotteck zufolge scheinen darüberhinaus einige Staatsrechtler des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland, wie z.B. Martini und Schlözer, den Begriff Anarchie zur Beschreibung eines Gesellschaftszustandes benutzt zu haben, in dem es keine öffentliche Gewalt gibt und dennoch Ordnung, Ruhe und Sicherheit existieren könnten.

Auch im Brockhaus'schen "Conversations-Lexikon" von 1814 findet sich noch ein anthropologisch orientierter Interpretationsansatz des Anarchiebegriffs, demzufolge Anarchie als "ein Volksverein ohne gemeinschaftliche Regierungsform" definiert wurde. In einer ergänzenden Erläuterung wurde der Begriff Anarchie allerdings negativ als ein "Zustand der Unordnung und Auflösung" beschrieben. Rotteck unterschied in der von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber 1819 herausgegebenen "Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste" gleichfalls zwischen einer prähistorischen, d.h. bei ihm "vorhergehenden (oder primitiven) Anarchie" und einer "nachfolgenden Anarchie". Letztere charakterisierte er als "Ausartung oder Verfall der positiven Verfassung, als Krankheit der Staaten" und übernahm damit das in der Tradition von Aristoteles, Platon und Machiavelli stehende Interpretationsmodell der Anarchie als einer Degenerierungserscheinung des Staates. Ähnliches meinte der radikale Kirchenkritiker Francois Marie Voltaire (1694-1778), als er den Zustand des deutschen Kaiserreiches nach dem Westfälischen Frieden (1648) als "konstituierte Anarchie" bezeichnete, eine Wortschöpfung, die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in seiner frühen Arbeit über "Die Verfassung Deutschlands" übernommen wurde.

Die allmähliche Umbewertung, d.h. Aufwertung, des Anarchiebegriffs läßt sich gut bei Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) verfolgen. Noch 1787, also zur gleichen Zeit, als in Amerika Thomas Jefferson seine Sympathie für gelegentliche Rebellionen äußerte, hatte Goethe angesichts einer aufkeimenden Meuterei, die er auf einem Schiff in der Nähe von Sizilien miterlebte, das Wort Anarchie negativ als Synonym für Revolte benutzt. Er verurteilte diese wie folgt: "[Mir ist] von Jugend auf Anarchie verdrießlicher gewesen als der Tod selbst." Doch bereits 1794 benutzte er den Begriff Anarchie in einer positiveren Sinngebung, indem er ihn auf den literarischen Bereich übertrug und in einer Betrachtung des Literaturbetriebs seiner Zeit von einer "aristokratischen Anarchie" sprach. In seiner "Geschichte der Farbenlehre" charakterisierte Goethe 1808 die Anarchie sogar als ein notwendiges Ferment des kulturellen Fortschritts: "Ob wir gleich, was Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anarchie leben, die uns von jedem erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint, so ist es doch eben diese Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite ins Enge, aus der Zerstreuung zur Vereinigung treiben muß." Und spöttelnd volkstümlich dichtete Goethe 1821 in den "Zahmen Xenien":

"Warum mir aber in neuester Welt
Anarchie gar so wohl gefällt? -
Ein jeder lebt nach seinem Sinn,
Das ist nun also auch mein Gewinn.
Ich lass einem jeden sein Bestreben,
Um auch nach meinem Sinne zu leben."

Ludwig Börne (1786-1837), neben Heine einer der geistigen Gründungsväter der literarischen Erneuerungsbewegung des "Jungen Deutschland", war vermutlich der erste, der sich in Deutschland auch in einem politischen Sinn offen für die Anarchie aussprach. In einer Kritik eines 1825 in Paris erschienen Buches, den "nouvelles lettres provinciales", befürwortete er die Anarchie wie folgt:

"Nicht darauf kommt es an, daß die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muß vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinde. Aber noch kein Herrscher hat die Macht, die er besaß, und wenn er sie auch noch so edel gebrauchte, freiwillig schwächen lassen. Die Herrschaft kann nur beschränkt werden, wenn sie herrenlos - Freiheit geht nur aus Anarchie hervor. Von dieser Notwendigkeit der Revolution dürfen wir das Gesicht nicht abwenden, weil sie so traurig ist. Wir müssen als Männer der Gefahr fest ins Auge blicken und dürfen nicht zittern vor dem Messer des Wundarztes. Freiheit geht nur aus Anarchie hervor - das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden."

Wenn auch nicht ausgesprochen anarchistische, so doch zumindest eindeutig libertäre Ideen lassen sich auch bei Wilhelm von Humboldt (1767-1835) finden, wie z.B. in seiner Schrift "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", die Humboldt nach eigenem Zeugnis mit der Intention verfaßte, "der Sucht zu regieren entgegenzuarbeiten".

Als erster Vertreter des frühen durch Proudhon inspirierten deutschsprachigen Anarchismus kann der aus einer orthodoxen jüdischen Fabrikantenfamilie stammende Publizist Moses Hess (1812-1875) betrachtet werden, der seit Anfang der 40er Jahre zu den aktivsten sozialistischen Journalisten Deutschlands gehörte. Schon 1843 hatte Hess den von Proudhon geprägten positiven Anarchiebegriff übernommen und eine Zeitlang in Deutschland Ideen propagiert, die im weitesten Sinne als anarchokommunistisch charakterisiert werden könnten. In seiner Schrift "Die Philosophie der Tat" , die 1843 als Artikelserie in der von Georg Herwegh herausgegeben Zeitschrift Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz erschien, definierte Hess Atheismus und Kommunismus als analoge Erscheinungsformen der Anarchie:

"Die Anarchie, auf welche sich die beiden Erscheinungen, Atheismus und Kommunismus, zurückführen lassen, die Negation aller Herrschaft, im geistigen wie im sozialen Leben, erscheint zunächst als schlechthinige Vernichtung aller Bestimmung, mithin aller Wirklichkeit. Aber es ist in der Tat nur das äußerliche Bestimmtwerden, die Herrschaft des einen über den anderen, was die Anarchie aufhebt. Die Selbstbestimmung wird hier so wenig negiert, daß vielmehr deren Negation (die durch das Bestimmtwerden von außen gesetzt) wieder aufgehoben wird. Die durch den Geist geschaffene Anarchie ist nur eine Negation der Beschränktheit, nicht der Freiheit. Nicht die Schranken, welche der Geist sich selbst setzt, bilden den Inhalt seiner freien Tätigkeit - also dieses Sichsetzen, Sichbestimmen oder Sichbeschränken ist es nicht, was vom freien Geist negiert werden kann, sondern das Beschränktwerden von außen."

Unüberhörbar ist aber auch das individualanarchistische Credo in den von Hess zu dieser Zeit veröffentlichten Schriften. Noch vor Max Stirner propagierte er (ebenfalls in seiner "Philosophie der Tat") die Autonomie des Individuums wie folgt: "Der Wert der Anarchie besteht darin, daß das Individuum wieder auf sich selbst angewiesen wird, von sich ausgehen muß . . . Wenn ich eine Macht außer oder über meinem Ich glaube, so bin ich von Außen beschränkt . . . Ebenso kann ich im sozialen Leben mich selber bestimmen, in dieser oder jener bestimmten Weise tätig sein, ohne eine äußere Schranke meiner Tätigkeit anzuerkennen - ohne einem Anderen das Recht einzuräumen, mich zu beschränken." Doch schon 1845, dem Jahr als Stirner seine Schrift "Der Einzige und sein Eigentum" veröffentlichte, distanzierte sich Hess in seiner sowohl gegen Stirner als auch gegen Marx gerichteten Schrift "Die letzten Philosophen" von seinen frühanarchistischen Auffassungen. Und mit zunehmender Annäherung an Marx nahm Hess schließlich auch Abstand von den libertär antietatistischen Ideen Proudhons. So kritisierte er 1850 (in einem Brief an Alexander Herzen) Proudhon als einen "bürgerlichen 'Anarchisten'" und erklärten Feind jener proletarischen Staatsmacht, die Hess in Einklang mit Marx inzwischen zur Sicherung der sozialen Revolution für notwendig erachtete.

Eine ausführliche Darstellung des frühen Anarchismus in Deutschland würde sich zu weit von der Begriffsgeschichte des Wortes Anarchie entfernen. Denn auch im deutschen Sprachraum sind freiheitlich anti-autoritäre Ideen bis zum Enstehen des sozial-philosophischen Anarchismus gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist nicht unter dem Begriff Anarchie, sondern fast überwiegend unter anderen Bezeichnungen vertreten worden. So hat beispielsweise Max Stirner (d.i. Johann Kasper Schmidt; 1806-1856), der philosophische Wegbereiter des individualistischen Anarchismus, den Begriff Anarchie nur äußerst selten verwendet. Dort, wo er ihn wie in seiner Kritik des Liberalismus benutzte, hat er ihn in seiner negativen Bedeutung verwandt. Statt der Anarchie propagierte Stirner in seinem Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum" einen radikalen Egoismus, der allerdings unverkennbar anarchistische Züge trägt. Das gleiche gilt für Edgar Bauer, dessen Ideen der anarchistische Sozialist Gustav Landauer ebenfalls zu den Zeugnissen des frühen Anarchismus in Deutschland rechnete. In einer Kritik auf die 1848 veröffentlichte Schrift des radikalen "Jungdeutschen" Wilhelm Marr "Der Mensch und die Ehe vor dem Richterstuhl der Sittlichkeit" unternahm Bauer eine geradezu paradox anmutende Begriffsneudefinition: Er tauschte die beiden Worte Anarchie und Herrschaft gegeneinander aus. "Nicht also die Anarchie gilt es zu proklamieren, sondern die Herrschaft; die Herrschaft ist es, welche wir wieder zu erringen und deren Gesetze wir zu finden haben." Herrschaft aber war nach Bauers Auffassung vor allem Selbstbeherrschung - also gesellschaftliche Autonomie, Gegenseitigkeit und Eigenverwortlichkeit des Individuums. Und in diesem Verständnis des Wortes bildete die Forderung nach "Herrschaft" (lies: Autonomie) ein wesentliches Element aller sozialen Theorien des späteren politischen Anarchismus.

Ein Echo auf den frühen deutschsprachigen Anarchismus der Vormärzzeit findet sich noch in der 1852 von Wilhelm Marr veröffentlichten Schrift "Anarchie oder Autorität". In Anlehnung an Proudhon (dessen Schriften Marr ebenso wie die Stirners kannte) hatte er bereits als Wortführer des "Jungen Deutschland" in der Schweiz den Anarchiebegriff mit einem politisch revolutionären Programm verknüpft. Die von Marr seit 1844 in Lausanne herausgegeben Blätter der Gegenwart für sociales Leben wurden wegen der in ihnen publizierten heftigen Attacken auf Staat, Eigentum und Religion 1845 von den schweizerischen Behörden verboten, Marr wurde verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert. Sein von den Ideen Proudhons und Stirners geprägtes Anarchieverständnis hat Marr in "Anarchie oder Autorität?" wie folgt präzisiert:

"Daß die Monarchie . . . nicht bestehen kann, ergibt sich von selbst. Die Polyarchie, welche sich im reinen Repräsentativsystem ausspricht, ist ebenfalls durch Theorie und Geschichte vor dem Richterstuhl der Individualität verurteilt. Seinen wahren Ausdruck findet der Individualismus erst in der Omniarchie, welche gerade dadurch, daß sie die Herrschaft aller ernst nimmt, die Herrschaft des oder der einzelnen unnötig macht - Anarchie wird."

Und politisch resignierend kommentierte er das Scheitern der demokratischen Bewegung in der 1848er Revolution:

"Diese rührige lärmende Demokratie ... tritt von der Bühne ab. Freilich stürzt sich ein Teil in die dürren Steppen der Konspiration für eine neue Autorität, aber ein anderer Teil setzt den Verhältnissen die Ironie entgegen und kündigt damit der Autorität die Achtung auf. (...) Ich [aber] gehe auf Reisen und wäre es auch nur, um vom Bord meines Schiffes, im Angesicht des großen, freien, wogenden Ozeans aus tiefster Brust dem Vaterland die Parole der Zukunft zum Abschied zuzurufen: Es lebe die Anarchie."

Von seinen Reisen, die ihn bis nach Mittelamerika führten, nach Deutschland zurückgekehrt, trennte sich Marr in späteren Jahren von seinen anarchistischen Jugendidealen und erlangte schließlich in den siebziger Jahren eine unrühmliche Bekanntheit als antisemitischer Agitator (er war auch der Erfinder des Wortes 'Antisemitismus').



3. Das politische Schlagwort "Anarchist"

Als politisch diffamierendes Schlagwort ist der von dem Begriff Anarchie abgeleitete Ausdruck Anarchist erst seit der französischen Revolution bekannt. Allem Anschein nach war es der Girondist Jaques Pierre Brissot, der den Begriff "Anarchist" in einer Wahlrede vom 23. Mai 1793 als erster zur Diskreditierung des politischen Gegners benutzte. Schon bald wurde der Ausdruck von den meisten übrigen politischen Parteien zur Diffamierung des "linken" politischen Gegners übernommen, wobei es gleichgültig war, ob es sich bei diesem Gegner nun um die Anhänger J. R. Héberts, J.-B. Cloots', F. N. Babeufs oder um die Mitglieder der Kommune von Paris oder auch um die Jakobiner handelte. 1797 wurde vom Direktorium im Rat der Fünfhundert sogar ein Eid eingeführt, in dem jeder Abgeordnete "Haß dem Königtum und der Anarchie" schwören mußte, ein Eid, der damit auch formal jene unselige Tradition der "anti-anarchistischen Verschwörung" der Regierenden begründete, die bis in die unmittelbare Gegenwart reicht.

Auch im deutschen Sprachraum wurden die Schlagworte 'Anarchie' und 'Anarchist' im Gefolge der französischen Revolution schon bald von den konservativen und reaktionären Kräften zur Diffamierung des politischen Gegners benutzt. Sie finden sich beispielsweise wieder in Christoph Martin Wielands "Göttergesprächen" (1825), in denen die "Freiheit der Waldtiere" und die "Gleichheit einer Zigeunerhorde" als die Maximen der Zeit beschrieben wurden, "die man seit geraumer Zeit in den Versammlungen ihrer Freiheitsschwärmer und Anarchisten hört".

Und doch fehlte es in Deutschland anfänglich nicht an Stimmen, die vor einer Übernahme des in Frankreich populär gewordenen polemischen Anarchiebegriffs warnten. So hatte schon Rotteck in dem von ihm und Carl Welcker 1834 herausgegebenen "Staats-Lexikon. Oder Encyklopädie der Staatswissenschaften" sich eindringlich gegen die polemisch-manipulative Interpretation des Wortes Anarchie ausgesprochen: "In der neuesten Zeit ist nicht selten eine ganz maßlose Furcht vor dem, mit Anarchie verwechselten Wehen des nach Staatsverbesserung strebenden Zeitgeistes das Motiv oder auch die angebliche Gefahr des Einbrechens solcher Anarchie der Beschönigungsgrund von Maßregeln gewesen, welche gerade, wenn nicht eine unverwüstliche Liebe zur Gesetzlichkeit und Ordnung die edlen Völker erfülle, jenes Unheil, welches sie steuern sollten, hätten hervorrufen können." Eine ähnliche Auffassung findet sich auch in dem vom Königlich- Preußischen Justizrath Hermann Wagener 1859 herausgegebenen "Staats- und Gesellschaftslexikon". In ihm wird die Dialektik von Anarchie und Herrschaft wie folgt beschrieben: ". . . je tiefer die Gesetzgeber die ursprüngliche anarchistische Neigung des Menschen erkennen, desto rücksichtloser unterwerfen sie den vollständig gefesselten Einzelnen dem Staatswillen. Aus Furcht vor der Anarchie, vor den Übergriffen des einzelnen, vernichten sie die Individualität ganz. . .".

Letztlich hat sich aber in der Folgezeit auch im deutschsprachigen Raum die rein negative, polemisch-diffamierende Bedeutung der Begriffe "Anarchie", "Anarchist" und "Anarchismus" im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. Eine regelrechte Hochkonjunktur erlebte der Begriff Anarchie als Schlagwort zur Denunziation des linken Gegners in der 1848er Revolution. Es war vor allem die konservative und reaktionäre Presse, die in den düstersten Farben das Schreckgespenst der "Anarchie" beschwor, um die Bevölkerungsmehrheit gegen die Revolution einzustimmen. In diesem Sinne wurden die politischen Parteiungen, die in der Märzrevolution zum Vorschein kamen 1848 von den Münchner Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland hämisch wie folgt kategorisiert: "Heute gibt es drei große politische Parteien; die welche die Anarchie will, die welche sie nicht will, und die welche nicht weiß, was sie will." Zu der Partei, die die Anarchie zweifellos nicht wollte, gehörte das reaktionäre Berliner Blatt St. Georg gegen den Drachen, welches unter dem Motto "Zum Schutz der wahren bürgerlichen Freiheit und der Ordnung - zum offenen Kampf gegen Anarchie und Wühlerei" erschien.

Tatsächlich lassen sich jedoch für die als "anarchistische Wühlerpartei" diffamierte radikale demokratische Volksbewegung nur selten Zeugnisse für eine positive Verwendung des Anarchie- Begriffs finden. So wurden zwar ab 1848 in der Trierschen Zeitung unter der Schriftleitung von Karl Grün Ideen propagiert, die sich durchaus dem frühen Anarchismus zurechnen lassen. Doch statt des politisch diskreditierten Begriffes Anarchie benutzten die Herausgeber der Trierschen Zeitung zur Beschreibung ihres politischen Zieles den Begriff Utokratie (was nur eine Umschreibung des Begriffes Anarchie war, denn wörtlich übersetzt heißt Utokratie: "daß es nirgends Herrschaft gibt"). Eine monarchistische Verkleidung ihrer libertär-antietatistischen Ideen wählte die Ende April 1849 in Frankfurt erschienene Neueste Preußische Zeitschrift für Unsinn und Lüge. In dem die ultrareaktionäre Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung karikierenden Blatt wurde die "wahre konstitutionelle Monarchie" gefordert, die in der Endkonsequenz auf die politische Anarchie als Auflösung aller Staatsgewalt hinauslief.

Spätestens unter dem Eindruck einiger von Anarchisten verübten politischen Attentate gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Begriff "Anarchismus" zu einem Reiz- und Schlagwort, das mit Terror, Angst und Schrecken assoziiert wurde. In Deutschland wurde das Schlagwort Anarchist besonders zur Zeit des Sozialistengesetzes (1878-1890) von den regierenden Reaktionären und Konservativen zur Diffamierung des politischen Gegners instrumentalisiert. Aber auch die von dem Gesetz "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" betroffene Führung der Sozialdemokraten bediente sich ihrerseits des Schlagwortes Anarchist zur Diskreditierung der radikalen Kräfte in der deutschen Arbeiterbewegung. Presse und Verlage griffen ihrerseits um die Jahrhundertwende das politische Reizthema "Anarchismus" begierig auf und haben nicht wenig zur Verbreitung des negativen Stereotyps des Anarchisten als fanatischem Gewalttäter beigetragen.

Während also einerseits die Ideen der Aufklärer, des deutschen Idealismus und des Frühsozialismus dazu beitrugen, daß der philosophisch definierte Begriff Anarchie eine positive Aufwertung erfuhr, bewirkte andererseits das in und nach der französischen Revolution kursierende Schlagwort "Anarchist" eine erneut negative Bedeutungserweiterung des Wortes Anarchie. Der Begriff "Anarchist" wurde schließlich - wie das mit politischen Schmähbegriffen dieser Art nicht selten der Fall ist - von denen angenommen, die unter ihm verfolgt wurden.



4. Das Anarchieverständnis der ersten Anarchisten


1793 veröffentlichte in London der Schriftsteller der englischen Romantik, William Godwin (1756-1836), unter dem Eindruck der französischen Revolution seine bekannte Schrift "Enquiry Concerning Political Justice, and its Influence on General Virtue and Happiness". Die seinerzeit auch in Deutschland von der kritischen Intelligenz (so von Georg Forster) beachtete Arbeit kann als eines der frühen Werke des "klassischen" Anarchismus betrachtet werden. Und zwar nicht etwa, weil Godwin in seiner Untersuchung der politischen Gerechtigkeit den Begriff Anarchie positiv definierte - denn dies tat er nicht -, sondern weil er in ihr wesentliche theoretische Positionen des späteren politischen Anarchismus antizipierte. Den Begriff Anarchie selbst verstand Godwin weitaus negativer als ihn beispielsweise sein deutscher Zeitgenosse und geistesverwandter Schriftstellerkollege Schlegel definierte, aber gegenüber der Despotie gab auch er der Anarchie zweifellos den Vorzug:

"The nature of anarchy has never been sufficiently understood. It is undoubtedly a horrible calamity, but it is a less horrible than despotism. Where anarchy has slain its hundreds, despotism has sacrificed millions upon millions with this only effect, to perpetuate the ignorance, the vices and the misery of mankind. Anarchy is a short-lived mischief, while despotism is all but immoral. (. . .) It is to despotism that anarchy is indepted for its sting."

Es war der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende französische Autodidakt und Sozialphilosoph Pierre Joseph Proudhon (1809-1865), der offensichtlich als erster in seinem 1840 veröffentlichten Werk "Qu'est-ce que la propriété ?" die Idee der Anarchie nicht nur als ein erstrebenswertes Gesellschaftsideal akzeptierte, sondern den Begriff darüberhinaus auch mit einer revolutionären politischen Perspektive verknüpfte. Proudhon, der die im Titel seiner Schrift aufgeworfene Frage mit den später vielzitierten und zumeist mißverstandenen Worten "Eigentum ist Diebstahl" beantwortete, beschrieb seine eigene politische Position als "Anarchist" in einem imaginären Dialog mit seinem Leser wie folgt:

"- Du bist Republikaner?
- Republikaner, ja; aber das Wort sagt nichts Bestimmtes. Republica, das heißt die Wohlfahrt des Ganzen; nun wer sie will, gleichgültig unter welcher Regierungsform, mag sich Republikaner nennen. Die Könige sind auch Republikaner.
- Nun denn: Du bist Demokrat?
- Nein.
- Was! Du bist also Monarchist!
- Nein.
- Konstitutionalist?
- Gott bewahre mich davor.
- Du bist also Aristokrat?
- Keineswegs.
- Du bist für eine gemäßigte Regierungsform?
- Noch weniger.
- Was bist Du also?
- Ich bin Anarchist."

Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Proudhon mit der Annahme dieses zu seiner Zeit durchgängig negativ besetzten politischen Schlagwortes 'Anarchist' anfänglich nur seine politischen Gegner provozieren wollte. Die Anarchie selbst definierte Proudhon ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes als "Abwesenheit jedes Herrschers, jedes Souveräns" - und er gab dem Begriff zugleich eine historische Dynamik, indem er hinzufügte - "das ist die Regierungsform, der wir uns täglich mehr nähern (. . .) wie der Mensch die Gerechtigkeit in der Gleichheit sucht, so sucht die Gesellschaft die Ordnung in der Anarchie."

Ungeachtet der positiven Neudefinition des Anarchiebegriffs durch Proudhon zögerten die Anhänger der anarchistischen Idee wegen der weiterbestehenden Zweideutigkeit des Wortes eine ganze zeitlang mit der Adoption des Begriffes "Anarchist" und bezeichneten sich stattdessen eher als Mutualisten, anti-autoritäre, freiheitliche oder libertäre Sozialisten. Und insbesondere der letztgenannte Begriff (bzw. seine Verkürzung auf den Ausdruck: Libertäre/r) wird bis heute von Anarchisten immer noch als ein Synonym benutzt.

In den frühen Schriften Michail Bakunins (1814-1876), des Begründers des kollektivistischen Anarchismus, findet sich der Begriff Anarchie sowohl in seiner negativen als auch in seiner positiven Auslegung eng nebeneinanderstehend, so etwa in einem am 8. Dezember 1848 verfaßten Brief an seinen Freund, den deutschen Revolutionsdichter Georg Herwegh, in dem er von der Anarchie als dem Resultat der entfesselten "schlechten Leidenschaften" spricht. Diese "schlechten Leidenschaften" würden Bakunin zufolge "einen Bauernkrieg hervorbringen, und das", so betonte er, "freut mich, da ich nicht die Anarchie fürchte, sondern sie aus ganzer Seele wünsche - sie allein kann uns aus dieser verfluchten Mitte, in der wir seit so lange vegitiren müssen, herausreißen." Für den Junghegelianer Bakunin besaß der Begriff Anarchie eine dialektische Dimension. Einerseits kennzeichnete die Anarchie die im Alten verwurzelten Kräfte der Zerstörung, die das Neue hervorbringen würden. Der Kampf zwischen dem Alten (der These) und dem Neuen (der Antithese) endet mit dem völligen Untergang des Alten, wodurch das Neue seinen Charakter als Antithese verliert. Und dementsprechend verliert die Anarchie ihren destruktiven Charakter und kennzeichnet nun die konstruktiven Kräfte des Neuen. Dieses dialektische Verständnis des sozialen Fortschritts bzw. der Anarchie hat Bakunin im Schlußsatz seiner 1842 verfaßten Schrift "Die Reaktion in Deutschland" auf die prägnante Formel gebracht: "Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!". Ähnlich wie der späte Proudhon definierte jedoch auch Bakunin in seinen Frühschriften die von ihm angestrebte neue Gesellschaftsordnung - also die nachrevolutionäre und konstruktive Anarchie - eher im Sinne eines Minimalstaates bzw. einer extrem föderalistisch aufgebauten sozialen Demokratie. Einen ausgeprägt anti-etatistischen und anti-autoritären Charakter, der fortan für alle Strömungen des Anarchismus kennzeichnend sein sollte, bekam der Anarchiebegriff bei Bakunin erst in den Jahren nach 1866.

Die schließliche Adoption des politischen Schlagwortes "Anarchist" durch die Anhänger des anti-autoritären Flügels der Ersten Internationale (1864-1871) und die nicht zuletzt dadurch sich auch semantisch vollziehende Konstituierung des politischen Anarchismus schildert Pjotr A. Kropotkin (1842-1921), der Begründer des kommunistischen Anarchismus, wie folgt:

"Als im Schoße der Internationale eine Bewegung entstand, welche die Berechtigung der Autorität innerhalb der Vereinigung leugnete und sich überhaupt gegen jede Form der Autorität empörte, gab sich diese Gruppe zuerst den Namen der föderalistischen, später der anti-staatlichen oder anti- autoritären Richtung innerhalb der Internationale. Zu dieser Zeit vermied sie sogar, sich anarchistisch zu nennen. Das Wort 'An- archie' (so schrieb man es damals) schien die neue Gruppierung zu sehr den Anhängern Proudhons zu nähern, dessen wirtschaftliche Reformideen die Internationale in diesem Moment bekämpfte. Aber gerade deshalb, um Verwirrung anzurichten, gefielen sich die Gegner darin, diesen Namen zu gebrauchen; übrigens erlaubte ihnen dieser Name, die Behauptung aufzustellen, daß es die einzige Bestrebung der neuen Partei sei, Unordnung und Chaos anzustiften, ohne an die Folgen zu denken.

Die anarchistische Bewegung beeilte sich, den Namen, den man ihr gab, anzunehmen. Im Anfang bestand sie noch auf den Bindestrich zwischen An- und Archie, indem sie erklärte, daß in dieser Form An-Archie, vom Griechischen abgeleitet, ohne Herrschaft bedeutet, und nicht 'Unordnung'; doch bald nahm sie ihn an, so wie er war, ohne sich zu bemühen, den Druckerei-Korrektoren überflüssige Arbeit und ihren Lesern eine Lektion im Griechischen zu geben."

Mit der Adoption des Begriffes "Anarchist" durch die anti-autoritären Sozialisten der Ersten Internationale und der damit einsetzenden Entstehung einer anarchistischen Sozialphilosophie treten das Wort Anarchie und die von ihm abgeleiteten Begriffe Anarchist und Anarchismus erstmals in einer historisch dynamischen Bedeutung zu Tage: Fortan wurde die Anarchie nicht nur als Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft philosophisch bejaht, sondern auch politisch angestrebt.

Daß die Annahme dieses zumindest in der europäischen Neuzeit wenn auch nicht durchgängig negativ besetzten, so doch stets ambivalent verstandenen Begriffes keine so glückliche Entscheidung war, das belegen die periodisch in der anarchistischen Bewegung sich wiederholenden Rückbesinnungen auf Begriffe wie etwa libertärer Sozialismus und ähnliche Synonyme. Der französische "Anarchist" bzw. "libertäre Sozialist" Gaston Leval nannte 1969 die Wahl des Wortes Anarchie sogar einen "monumentalen Irrtum", der seit 130 Jahren zu den größten Mißverständnissen geführt habe:

"Alles in allem hat die öffentliche Meinung die Phantasie Proudhons nicht beachtet und sich geweigert, sich [seiner Sinngebung des Wortes Anarchie] zu unterwerfen. Vielmehr blieb die negative Bedeutung des Wortes Anarchie erhalten. Und seit 1840 haben sich die Anarchisten unermüdlich, aber völlig unnütz darum bemüht, die öffentliche Meinung dazu zu veranlassen, etwas anzunehmen, was sie nicht will. Und wir haben uns, weil wir hartnäckig darauf bestehen, den Sinn des Wortes gegen den allgemeinen Willen zu verändern, außerhalb der öffentlichen Meinung gestellt."

Ich hoffe das war ausführlich genug....