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7. June 2006, 19:18   #60
Akareyon
 
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Früher hätte ich in das auch hier zu bewundernde HipHop-Bashing eingestimmt. Das ist doch keine Musik, einfach ein Sample aus 'nem 70'er-Jahre-R'n'B-Stück zu nehmen, zu loopen, mit Kick und Snare zu unterlegen und ein bissl dummes Zeug zu erzähählen!

Nun weiß aber jeder, der schonmal zwei Zeilen von mir gelesen hat, daß ich, obwohl Metal-Affinado, schon immer ein offenes Ohr für fast jede Art von Musik hatte. Eine Freundin, Klassik-Fanatikerin, war beispielsweise geschockt, als ich mal meine Klassik-CDs aus dem Regal sortierte und vorlas: Bach, Beethoven, Grieg, Orff, Elgar, Pachelbel, Tschaikowsky... von meiner MP3-Sammlung mal ganz zu schweigen. Natürlich muß ich an dieser Stelle auch immer mit dem altaischen Obertongesang rumprollen, der nun wirklich mehr als gewöhnungsbedürftig ist, oder mit den Mittelalter-CDs mit ihren von-der-Vogelweide-Interpretationen. Daß ich schon mit sechs Jahren Strauss-Fan war und mit Eintritt ins Teenie-Alter sämtliche Vinyl-Platten von ABBA zu sammeln begann, gehört ebenfalls nicht zu meinen bestgehüteten Geheimnissen. Dazu kommt ein heftiges Repertoire an Filmmusik, Trip Hop, Trance, Industrial und vielen anderen Stilen. Lediglich mit House und Gabba konnte ich bisher noch nicht soviel anfangen.

Tja, und irgendwann dann Rock, Punk und Metal, und natürlich mußte ich wissen, wie sich Iron Maiden, DIO, Metallica, Kiss, Uriah Heep und Black Sabbath früher anhörten, und ich stieß auf Helloween, Led Zeppelin, Jethro Tull, Cream, Jimi Hendrix, Fleedwood Mac und Atomic Rooster. Mike und Sally Oldfield kannte ich sowieso schon länger, blablabla...

...und der eine oder andere weiß vielleicht auch, daß ich mich zuletzt selber der Gilde der Musikschaffenden angeschlossen habe. Daß es ausgerechnet HipHopper sein mußten, mag anstoßerregend erscheinen. Aber gerade für die muß ich jetzt mal eine Lanze brechen.

Um ein Mißverständnis auszuräumen: der Begriff Hip Hop an sich ist beschreibt nicht den Musikstil, Hip Hop ist eine Kultur. Zu Hip Hop zählen vier Künste. Das ist das Grafitti-Sprühen, das ist das Breakdancing, das DJing (Scratchen) und das Rappen.

Es mag unverständlich erscheinen, doch es geht bei der Musik des Hip Hop weniger um die Virtuosität der Instrumentalisten (die zumeist ohnehin nicht vorkommen), sondern um ganz andere Aspekte, die unterscheiden, wer "gut" ist und wer nicht. Beurteilt wird stattdessen der "Flow" des Rappers, der Fluß, die Rhythmik, der Takt, der Reim, der Ausdruck und nicht zuletzt die Poetik, der Inhalt und die Glaubwüdigkeit seines dargebotenen Textes. Ghostwriting, also das Aufsagen fremder Texte, ist verpönt.

Es handelt sich also um eine Kunst, an die die herkömmlichen Maßstäbe der Melodik etc. anzulegen so aussichtslos ist, wie wenn man den Inhalt eines Wasserglases in Volt angeben wollte.

Dazu muß gesagt werden, daß der Mainstream-Hip-Hop, besonders in Deutschland, innerhalb der Kultur ohnehin ambivalent betrachet wird. Hip Hop ist sicherlich eine "kriegerische" Kultur - es geht immer darum, sich zu beweisen und besser dazustehen als der andere (die öffentlich ausgetragenen Kleinkriege zwischen Eko Fresh, Sido, Bushido, Azad, Samy Deluxe, Fler und Konsorten, die die Furcht vor amerikanischen Verhältnissen (wo es infolge eines East-Coast-West-Coast-Bandenkonflikts sogar zu Toten in beiden Lagern kam (Tupak Shakur, Notorious B.I.G.)) schürten, sind Beispiel genug). Doch wer nur erzählt und nicht durch Tiefgang beweist, verliert bald seine "Credibility", und das ist der Niedergang eines jeden Rappers. Schöne Gegenentwürfe lieferten und liefern beispielsweise Seeed, Freundeskreis, Blumentopf, Fünf Sterne Deluxe und Eins Zwo.

Als politisch nicht uninteressierter muß ich ausserdem betonen, daß Rapmusik sich besonders dadurch, daß sie den "Beat" (das Instrumental) lediglich zum Vehikel des Textes samt Inhalt macht, wunderbar dazu eignet, politische Überzeugungen zu vermitteln und zur Meinungsfindung beiträgt. Krass zeigte das Eminems Beitrag zur US-Präsidentschaftswahl, aber auch Samy Deluxes "Weck mich auf" dürfte als Paradebeispiel einer politischen HipHop-Hymne gelten.

Grundsätzlich halte ich es für problematisch, Musik als "Scheiße" zu bezeichnen, besonders, wenn verallgemeinert auf einen Zeitabschnitt oder eine Musikrichtung bezogen. Klar sage ich: Tokio Hotel ist Scheiße. Aber verdammt, lassen wir doch den kleinen Fans ihren Spaß. Wovor haben wir Angst? Daß kommende Generationen vielleicht niemals New Order, Jean-Michel Jarre oder Ultravox hören könnten? Ich denke, es sind besonders diese so oft verpönten "COVERsionen", die die Musik vor dem Vergessen bewahren, ja, sogar das Interesse am Alten erhalten. Nicht alles, was alt ist, ist scheiße. Nicht alles, was neu ist, ist scheiße.

Ich habe mir im April eine Gitarre gekauft und ein paar Akkorde gelernt. Ich habe Hornhaut an den Fingern. Vielleicht werde ich niemals Jimi Hendrix oder Erich Klapperton Konkurrenz machen, vielleicht werde ich noch nichtmal einen einzigen Ton aufnehmen. Vielleicht wird nie ein Fan meine Virtuosität auf der Gitarre beklatschen. Aber ich finde, daß es ein wunderschönes Instrument ist (und nicht so unhandlich wie das Akkordeon, das ich als Kind sowieso nie spielen durfte und erst kürzlich wieder den Klauen meiner Mutter entrissen habe), es gibt mir Gefühl für Töne, Harmonien und Melodie, und vielleicht werden mir irgendwann die Acid-, Logic-, FruityLoops- und Cubase-Kritiker verzeihen, daß ich niemals gelernt habe, Noten zu lesen und mich trotzdem getraut habe, mich an eine MIDI-Tastatur zu setzen und ein paar Töne am Computer aneinanderzureihen, weil ich es schön fand und für richtig hielt, diese Klangakkumulationen Musik zu nennen und auf die zu scheißen, die da sagen, heutige Musik sei scheiße, weil sie ja nicht "handmade" sei oder live nicht reproduzierbar. Vielleicht werden sie mir verzeihen, daß ich Größen- und Wahnsinniger schon nach einem Jahr zwanzig von mindestens dreißig dieser Krachlabskaustitel zu einem "Album" zusammengefasst und meinem "Projekt" einen Namen gegeben habe im stillen Vertrauen darauf, daß der eine oder andere - obwohl ich wohl sicherlich die Musik nicht neu erfunden habe - den einen oder anderen Track ganz nett findet.

Aber soll man alles bleiben lassen, bloß, weil es ein anderer viel besser könnte? Oder bloß auf den Verdacht hin, jemand könnte einen Kritikpunkt finden? Wie vollkommen müßte man sein, daß niemand, niemand auch nur ein Haar in der Suppe findet? Wäre das nicht ein Zeichen absolut unrettbaren Größenwahns?

In unserer Zeit finden selbst Scheißkünstler Fans. Doch leben wir in einer Zeit ungeahnter Ressourcen, die Perlen zu finden man aufwändig und schwierig sein, und doch gibt es mehr Perlen als früher. Die, die sagen, es gäbe nur einen Jimi Hendrix, werden ewig wieder ihre alten Schallplatten auflegen, weil sie das Neue nicht WOLLEN. Sie wollen das Alte hören, und wenn sie das alte auf einer neuen CD hören, werden sie sagen, das Alte wäre kopiert worden.

Ich möchte alt werden, um zu wissen, was für Musik man 2040 hört. Wird sie weniger melodisch sein, taktlos, schneller, langsamer? Ich denke nein. Ein Freund von mir sagt immer: es gibt nur zwölf Töne. Strenggenommen ist das nicht richtig; aber letztlich werden wir akzeptieren müssen, daß es nichts wahrhaft neues geben KANN. Es war alles schonmal da. Auch Bach hatte Kritiker, seine Musik wäre nicht Gott wohlgefällig. Haha!

Sie werden noch in hundert Jahren Bach covern, sie werden ABBA neu auflegen und Marilyn Manson remixen.