Thema: Stichtage
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10. July 2006, 07:54   #222
Jules
 
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10. Juli 1976: Der Unfall in Seveso entwickelt sich zur Umweltkatastrophe

Als Sevesounglück wird einer der schlimmsten Chemieunfälle des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Die Umweltkatastrophe ereignete sich am 10. Juli 1976 in der chemischen Fabrik Icmesa S.p.A in Meda bei Mailand. Dabei wurden große Mengen des hochgiftigen Dioxins TCDD (umgangssprachlich auch nur "Dioxin" genannt) frei.

Vorgeschichte des Unfalls
Bis Sommer 1976 wurde die Produktion von Trichlorphenol (TCP), einem Vorprodukt für Desinfektionsmittel gesteigert, obwohl einige Anwohner über Geruchsbelästigungen und gesundheitliche Beschwerden klagten. Die Modernisierung der Produktion wurde nicht umgesetzt.

Die Arbeitsbedingungen in der TCP-Produktion waren schlecht. Die Arbeiter waren hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und verfügten über eine unzureichende Ausbildung. Ein Arbeiter berichtete später Folgendes: „Wenn eine Birne der Beleuchtungsanlage unserer Abteilung kaputt war, musste man erstmal Dampf unter Druck austreten lassen, um die giftigen Rauchwolken, die sich ständig unter dem Dach sammelten, zu entfernen, bevor einer von uns mit einer Leiter die Birne wechseln durfte.“ Außerdem musste die Belegschaft, die zum Zeitpunkt des Unglücks 163 Beschäftigte umfasste, ständig die Abteilungen wechseln und konnte sich nicht richtig einarbeiten und Erfahrungen sammeln.

Chronologie des Unfalls
Im Juli 1976 kam es zu einem fatalen menschlichen Versagen. Am Nachmittag des 9. Juli besprach der Produktionsleiter mit den Vorarbeitern der TCP-Produktion den Plan für die kommende Woche. Im Bau B auf dem Werksgelände sollte wie üblich Trichlorphenol produziert werden. Hierzu wurde um 16.00 Uhr des gleichen Tages mit der Beschickung und Beheizung des „Reaktionskessels 101“ begonnen. Gegen Abend begann der Reaktor zu arbeiten. Um 2.30 Uhr am 10. Juli war laut Temperaturdiagramm die Reaktion des Kesselinhalts beendet. Um 6.00 Uhr war die Nachtschicht beendet. Ein Operateur schaltete das Rührwerk des Autoklaven 101 ab. Die zu diesem Zeitpunkt gemessene Temperatur von 158 °C war zu hoch. Dadurch, dass der Kesselinhalt keine Umschichtung mehr erfuhr, kam es zu einem Wärmestau. Das Wartungs- und Reinigungspersonal im Gebäude B merkte von der sich anbahnenden Katastrophe nichts.

Die chemische Kettenreaktion begann gegen 12.30 Uhr zunächst langsam, dann mit schnellem Druck- und Temperaturanstieg, und endete schließlich in einer Explosion. Um 12.37 Uhr platzte die Berstscheibe eines Sicherheitsventils infolge von Überdruck, der Kessel 101 entlud sich über eine Abblasestation in die Umwelt. Ein Auffangreservoir gab es nicht.

Über eine halbe Stunde lang wurde abgeblasen. Dabei wurden ein bis zwei Kilogramm der hochgiftigen Substanz TCDD, zehntausendmal giftiger als Zyankali, in die Umgebung freigesetzt.

Die sich ausbreitende Giftwolke trieb in südöstliche Richtung und ging hauptsächlich über den Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno nieder.

Erst um 13.45 Uhr traf fachkundiges Personal ein und konnte den Reaktor auf eine unkritische Temperatur herunterfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 1 800 Hektar Land auf Jahre verseucht.

Die Folgen
In den folgenden Tagen warnte die Werksleitung Anwohner der Fabrik davor, Obst und Gemüse aus heimischen Gärten zu verzehren und informierte die zuständigen Behörden. Außerdem wurden Proben vom Werksgelände und der Umgebung gesammelt und untersucht. Den Chemikern gelang nach chemischen Analysen, TCDD in den Proben nachzuweisen und eine Karte über die Ausbreitung der Substanz zu erstellen.

Die Blätter von Bäumen und Sträuchern in der Umgebung welkten und verdorrten, zahlreiche Tierkadaver wurden aufgefunden und viele Menschen erkrankten an Chlorakne.

Dennoch reagierten die Behörden zu spät und schlossen die Fabrik erst zum 17. Juli. Und das auch nur, nachdem Arbeiter in einen wilden Streik getreten waren und der Druck seitens der Öffentlichkeit zunahm.

Am 26. Juli verließen zunächst 208 Bewohner das verseuchte Gebiet. Die Zwangsräumung wurde behördlich angeordnet und das gefährdete Gebiet militärisch abgesperrt. Bewaffnete Soldaten mit zum Teil schweren Schutzanzügen und Gasmasken patrouillierten in den Straßen. Weitere 500 Personen wurden am 2. August evakuiert, nachdem noch schockierendere Analysenergebnisse eingetroffen waren. Die Firma Roche rief ihren Krisenstab zusammen. Die Gesundheitsbehörden rieten Schwangeren zu einer Abtreibung.

Zusammen mit der Roche-Konzernleitung versuchte die italienische Regierung einen Dekontaminationsplan für das verseuchte Gebiet zu erarbeiten. Dies mündete jedoch in zum Teil absurden Vorschlägen. Roche verpflichtete sich, grundsätzlich für alle Schäden und Dekontaminationsarbeiten aufzukommen. Im Herbst 1976 begannen die ersten Entseuchungsarbeiten. Zunächst wurde verseuchtes Laub eingesammelt und Gebäude mit speziellen Seifenlösungen behandelt, sofern deren Entseuchung überhaupt möglich war. Genaue Bodenanalysen sollten klären, wie stark das Erdreich verseucht war und ob eventuell das Grundwasser gefährdet war. Bis zum Sommer 1977 waren die ersten Dekontaminations-Maßnahmen beendet. Einige Betriebe und Schulen waren wieder nutzbar. Viele Gebäude waren jedoch so stark verseucht, dass nur deren Abbruch in Frage kam. Die innere Zone um die Fabrik blieb gesperrt. Das Erdreich in dieser Zone musste teilweise entfernt werden. Bis Jahresende 1977 konnten insgesamt 511 Personen ihre Häuser wieder beziehen.

Im Juli 1978 wurden die letzten Chemikalien, außer denen im Gebäude B, entfernt.

Die Dekontaminations-Maßnahmen in der Kernzone begannen erst im Frühjahr 1980. Hierzu wurde eine Grube mit 85.000 Kubikmetern Fassungsvermögen bei der Fabrik ausgehoben. Diese Grube wurde mit dicken verschweißten Kunststoffbahnen ausgekleidet. Die Grube sollte verseuchte Erde, Bauschutt und Schrott sicher einschließen.

In der Fabrik selbst begannen die Demontage- und Abbrucharbeiten. Das Gebäude B mit dem Havariekessel wurde aus Sicherheitsgründen nicht angetastet. Die italienischen Behörden beauftragten Anfang 1982 die Firma Mannesmann Italiana mit der Entsorgung des Reaktorinhaltes. Eine weitere Grube mit 160.000 Kubikmetern Fassungsvermögen wurde im Mai 1982 ausgehoben, um den Schutt von abgerissenen Gebäuden und verseuchtes Erdreich zu entsorgen.

Im Sommer 1982, sechs Jahre nach dem Unglück, wurde der Raparto B geöffnet. Darin verbliebene Rohrleitungen, Behälter und Aggregate wurden demontiert. Die Arbeiter, allesamt Freiwillige, trugen dabei schwere Schutzanzüge. Schließlich wurde der Reaktorkessel 101 entleert und der hochgiftige Inhalt in 41 Stahlfässer gefüllt. Diese Stahlfässer erhielten zusätzlich eine Umverpackung. Die Entleerung geschah unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen und Videoüberwachung. Die raumanzugähnlichen Monturen der Arbeiter wurden von außen mit Frischluft versorgt und die Arbeitszeiten am Reaktor waren genau reglementiert. Am 10. September 1982 wurden die Fässer mit dem Reaktorinhalt mit Lastkraftwagen abtransportiert. Die LKW fuhren Richtung Frankreich; ab St. Quentin verlor sich ihre Spur. Als die französische Presse vom „Verlust“ der Fässer erfuhr, kam es zum öffentlichen Skandal. Es begann eine verzweifelte Suche nach den Giftfässern. Die Fässer wurden an allen möglichen und unmöglichen Orten vermutet. Schließlich wandte sich das französische Umweltministerium an das deutsche Innenministerium, da dieses den Giftmüll in der Bundesrepublik Deutschland vermutete. Danach wurde in allen Deponien Westdeutschlands nach den Fässern gefahndet. Einige vermuteten die Fässer in der DDR.

Die deutsche Bundesregierung beauftragte nach erfolgloser Suche den Top-Agenten Werner Mauss mit der Recherche nach dem Verbleib der Fässer. Am 19. Mai 1983 wurden die Fässer schließlich in einem ehemaligen Schlachthof im nordfranzösischen Dorf Anquilcourt-le-Sart gefunden und in die französische Kaserne Sissone gebracht. Die Schweizer Regierung erteilte Roche die Erlaubnis, die Fässer in Basel zwischenzulagern, wo sie am 4. Juni eintrafen.

Am 24. September 1983 verurteilte ein Gericht in Monza fünf Mitarbeiter zu Freiheitsstrafen von zweieinhalb bis zu fünf Jahren. Alle Verurteilten gingen in Berufung.

Im April 1984 waren alle Dekontaminationsarbeiten in Seveso abgeschlossen. Man ließ einen Park und ein Sportgelände auf dem ehemaligen Areal der abgerissenen Icmesa anlegen. Über die Seveso-Katastrophe konnte erstes Gras wachsen. Nach zwei geglückten Testverbrennungen konnte der Reaktorinhalt vom 17. bis 21. Juni 1985 in Basel verbrannt werden.

Im Oktober 1993 wurde von einem deutschen Fernsehjournalisten behauptet, dass der Reaktorinhalt nicht verbrannt, sondern in der Deponie Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern endgelagert worden sei. Es wurde eine Untersuchungskommission gegründet, die aber nach erfolgloser Suche aufgelöst wurde.

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