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10. February 2002, 18:03   #5
Akareyon
 
Registriert seit: November 2001
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Isch bin groser Fan von die Chaos-Theorie, welche da besagt:

jede Begebenheit ist einer von unendlich vielen Faktoren, die die zeitlich und örtlich nächstliegenden Begebenheiten beeinflussen, die ihrerseits wieder Faktoren werden... undsoweiter. Daß sich all diese Faktoren nicht in eine Formel packen lassen, um absolut gültige Vorhersagen machen zu können, habe ich mal auf meiner Homepage so zusammengekleistert (eigentlich ist dieser Text Werbung für mein Buch).


Glaubst Du, daß Dein Kaffee heute morgen durch eine Verkettung unglücklicher, widriger, unvorhersehbarer Umstände übergekocht ist?

Was hat sich heute morgen für Dich geändert? Hat Dein Leben einen neuen Sinn, eine neue Dimension gewonnen? Oder bist du trotzdem ins Büro gegangen, wie jeden Morgen bisher?

Wieviel Zeit hast du verloren, als du die ganze Schweinerei weggewischt hast, um Kaffeeflecken auf der Küchenkonsole zu vermeiden? Drei Minuten?

Du hast trotzdem rechtzeitig die Wohnung verlassen, bist ins Büro gefahren und alles sofort wieder vergessen. Nie wieder würdest du dich daran erinnern.



Oder? Angenommen, der Kaffee wäre nicht übergekocht. Du hättest Deine Wohnung vielleicht minimal früher verlassen oder bei einem anderen Malheur noch mehr Zeit verloren. Du wärst ganz anderen Verkehrsteilnehmern begegnet. Und sie wären Dir an Stellen begegnet, an denen sie Dir nicht begegnet wären, wenn Dein Kaffee nicht übergekocht wäre. Wie wahrscheinlich, jetzt in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden, den Du nicht erlebt hättest, wäre Dein Kaffee nicht übergekocht.

Du wirst nicht groß darüber nachdenken, ob nun der Kaffee Dein Leben verändert hat, wenn Du im Krankenhaus liegst. Was von nun an passiert, hätte jedem passieren können, es muß ja nichts mit Dir zu tun haben. Nun ist es für Dich normal. Wenn Du nun aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers querschnitttsgelähmt wirst oder eine nette Mitpatientin kennenlernst, die später Deine Frau wird: wirst Du es auf den Kaffee schieben? Denke daran, daß Du den Vergleich nicht hättest. Was wäre passiert, wenn... ein nettes Gedankenspiel.

Wird sich die Weltgeschichte durch ein Versagen Deiner Kaffeemaschine ändern? Wird dadurch die Landung des Menschen auf dem Titan greifbarer oder unmöglicher? Ich würde sagen, daß es da eine Menge Faktoren gäbe, die sich wieder ausgleichen und den Zeitpunkt um höchstens drei Jahrzehnte verschieben. Insgesamt, im großen Ganzen, aus chronologisch-teleskopischer Sicht verliefe die Weltgeschichte genau gleich. Doch bestreite nicht, daß Du das Leben von Milliarden von Menschen auf lange Sicht nachhaltig beeinflußt. Denn die Welle breitet sich aus, unweigerlich, sie geht einmal um den Globus, es gibt ein paar Rückkopplungen. Es gibt auch Verzögerungen, und es gibt etwas, was ich Tunnels nennen würde: das moderne weltweite Telekommunikationssystem, über das sich die räumliche Ausdehnung dieser Ereigniswelle um ein tausendfaches beschleunigt. Trau' Dich ruhig, die Idee weiterzuspinnen.

Damit will ich nicht sagen, daß Du das nächste Mal, wenn Du Deinen Kaffee kochst, lieber zweimal nachsehen solltest, ob der Filtertrichter genau eingerastet ist. Zu jedem Zeitpunkt werden an jedem Punkt im Universum unendlich viele "Ereigniswellen" ausgelöst, viiel kleiner als die Deiner Kaffeemaschine. Das Faktum, als Mensch niemals all diese Zustände zusammengenommen in eine Formel stecken zu können, die es ermöglicht, zukünftige Ereignisse vorauszuberechnen, wird in der Chaostheorie postuliert.

Jeanne d'Arc zu verbrennen war unzweifelhaft "böse", eine zu verurteilende Tat gegen alle Menschlichkeit und Vernunft, unmittelbar und auch nachhaltig. Ich würde also nie so weit gehen und die Verantwortlichen dafür loben, den Franzosen zu einer Heiligen, einem Leitbild verholfen zu haben, das nie zustandegekommen wäre, wenn Johanna von Orleans alt, kinderreich und schwachsinnig geworden wäre. Diese Weitsichtigkeit spreche ich keinem Sterblichen zu, niemand kann behaupten, mit Bedacht eine Märtyrerin geschaffen zu haben. Genausowenig ist Judas Iskariot dafür zu danken, einzig durch seinen Verrat der gesamten Menschheit Erlösung durch den Tod eines Nazarener Zimmermanns verschafft zu haben. Ihm ging es vordergründig um die dreißig Silberstücke.

Ich erteile daher keine moralische, generelle Absolution. Jeder ist für sein Tun verantwortlich und hat nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Wenn hingegen ein Mensch ein Geldinstitut überfällt, drei Geiseln nimmt und zwei Kunden tötet, ist nicht derjenige schuld, der ihm aus Höflichkeit die Tür aufgehalten hat. Lustiges Thema, oder?


So in ungefähr das habe ich mal über das Thema geschrieben... ob ich in letzter Zeit eine andere Meinung dazu entwickelt habe, weiß ich nicht, hab länger nicht drüber nachgedacht...