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24. October 2006, 23:31   #4
Ben-99
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... das ist halt das Problem, Jupp, daß viele Menschen bedrohliche Situationen immer erst dann als "dramatisch" erkennen, wenn man am Elend nichts mehr ändern kann.

Und nun stellen wir beide uns mal vor, wir wären unsere Großväter und würden Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger in Berlin leben, einer Metropole, in der das Leben brodelte und die seinerzeit noch vor Paris als die kulturelle Hauptstadt der Welt angesehen wurde und es mehr Tagszeitungen als heute in Deutschland gab – darunter auch viele anspruchvolle Blätter. Nur "Bild" war damals noch nicht auf dem Markt ;-)

Jedenfalls hätten der noch junge Jupp und der fesche junge Ben damals auch eine Zeit miterlebt, in der sich niemand vorstellen konnte, daß schon wenige Jahre später ein international angesehener Publizist wie Carl von Ossietzky, Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Zeitschrift "Weltbühne", vor einem KZ-Aufseher strammstehen mußte und kurz drauf totgequält wurde.

Das allerdings konnte man schon nicht mehr in den damaligen Zeitungen lesen, weil die Presse bereits gleichgeschaltet war. Und wir beide sind uns ja hoffentlich darin einig, daß es damals keineswegs so war, daß nur der Mob, die Dummen und Primitiven, Hitler an die Macht gebracht haben. Keineswegs, denn die Nazis fanden auch Unterstützung aus Kreisen der ehrenwerten Hochfinanz und der damals mächtigsten Industriellen. Und keiner von denen war "dumm". Sie hatten Hitler nur falsch eingeschätzt.

Hätte man sie aber damals, kurz vor Hitlers Machtübernahme, gefragt, ob sie hinsichtlich der immer spürbarer werdenden Einschränkungen der Pressefreiheit nicht auch ihre Bedenken hätten äußern sollen, wäre von ihnen sicherlich dieselbe Antwort wie heute von Dir gekommen: "Also, was die Pressefreiheit angeht, sehe ich die Sache für Deutschland noch nicht soooo dramatisch."

Wie stark die Neonazis derzeit schon wieder sind, weißt Du ja. Und deshalb meine Frage: Sollen wir auch diesmal wieder alles so lange verharmlosen, bis es keine Möglichkeit mehr zur Umkehr gibt? Ich behaupte einfach mal, daß die Einschränkung der Pressefreiheit immer auch ein Vorbote für eine Zeit sein kann, in der den Bürgern irgendwann auch noch die freie Wahl der politischen Parteien verboten wird.

Ich wundere mich übrigens immer wieder darüber, daß man so etwas in Deutschland überhaupt noch seinen Landsleuten erklären muß. Denn wir haben doch, wenn auch nicht gern und freiwillig, durch die Geschichte den besten Nachhilfe-Unterricht der Welt erteilt bekommen. Gerade jetzt, am Jahrestag der Nürnberger Prozesse, sollte dies nicht unerwähnt bleiben.

Es ist schlimm, daß manche Ewiggestrigen noch immer den Holocaust leugnen. Ich finde es aber genauso schlimm, wenn viele Deutsche heutzutage schon wieder so locker drauf sind, daß sie sich eine Neuauflage des sogenannten "Tausendjährigen Reichs" anscheinend überhaupt nicht mehr vorstellen können. Dabei ist zumindest unser engster Verbündeter, die Vereinigten Staaten von Amerika, seit George Bush gar nicht mehr weit davon entfernt. Entsprechend wachsam sollten die Deutschen auf alles reagieren, was sich auch hier seitdem in bezug auf Überwachung und Einschränkung der Bürgerrechte verändert hat und schon in wenigen Jahren die Grundwerte unserer Demokratie erneut zerstören könnte.

Gruß Ben