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13. June 2002, 17:56   #23
tw_24
 
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Schockschwerenot! Wieso ernenne ich Marcel Reich-Ranicki zum "Liratur-Papst"?!?! Was ist "Liratur"? Wie auch immer, der Sinn meines Posts (Postings?) wird hoffentlich dennoch verstanden.

Und um bei der Kultur zu bleiben, habe ich mal ein wenig im Archiv gesucht und einen Wiglaf Droste gefunden, der so gar nicht nett mit Marcel Reich-Ranicki umgeht und dennoch lesenswert ist:

Zitat:
Zitat von Wiglaf Droste
Ein Bambi für Reich-Ranicki!

Als Marcel Reich-Ranickis Autobiografie "Mein Leben" erschien, hielten es einige Rezensenten für eine gute Idee, dem Publikum mit ihren Gefühlen lästig zu fallen. Sie hätten, besonders bei Szenen aus dem Ghetto, sehr geweint, teilten die Literaturkritiker mit. Ob diese Gefühle tatsächlich empfunden oder bloß ausgestellt waren, ist dabei nebensächlich: Es hatte etwas Obszönes, wie sich lauter gute Deutsche mit der Selbstverständlichkeit brüsteten, dass ihnen die Ermordung der Juden nicht gleichgültig ist. Seht her!, schienen sie zu krakeelen, wir weinen über die Ermordung von Juden! Sind wir nicht gut? Und vor allem: Kann uns auch jeder dabei sehen?

Was empfinden Leute, die so viel Wert auf die Veröffentlichung ihrer Gefühle legen, bei der Verleihung der "Goldenen Kamera" an Marcel Reich-Ranicki? Finden sie es zum Weinen, zum Lachen oder ganz egal, dass Reich-Ranicki, das HB-Männchen der Literatur, einen Fernsehpreis der Halbalphabetenzeitschrift Hör zu bekommt und annimmt? In der Begründung der Jury heißt es, Reich-Ranicki animiere mit seinem "Literarischen Quartett" das Publikum zum Lesen. Wer ihn und diese Sendung einmal gesehen hat, weiß, was für ein Quatsch das ist.

Reich-Ranicki mag zu allem Möglichem animieren - nur garantiert nicht zum Lesen. Der alten Krawallschachtel beim Herumfuchteln zuzusehen, ist einmal im Jahr ganz lustig; verglichen mit vielen Untoten, aus denen sich der Literaturbetrieb des Landes sonst rekrutiert, hat Reich-Ranicki leidlich unterhalterische Qualitäten. Gemessen am Klischee des fahlen Büchermenschen erscheint er feurig, und dass ihm die Bücher dabei nie halb so wichtig sind wie er selbst, liegt in der Profession des Entertainers begründet. Vor allem animiert Reich-Ranicki zur Parodie - und bleibt den meisten, die sich darin versuchen, insofern voraus, als er noch die monströseste Karikatur seiner Person durch seinen nächsten Auftritt übertrifft. Wie allerdings Eckhard Henscheid als Reich-Ranicki in den 80er-Jahren das Telefonbuch rezensierte - Müllärr? Daß ißt doch kein Name, daß hat doch mit Littärratturr nichtß tßu tun! -, war sehr erhellend, zeigte es doch die Methode Reich-Ranicki: immer vollrohr losgeorgelt und draufgedengelt, bis der masochistische Karasek ganz Pfütze wurde. Davon wiederum fühlen sich Buchhändler animiert, die im "Literarischen Quartett" erwähnten Bücher zu ordern - auch das ist ja keine Sache des Lesens. Nebenbei: Gibt es etwas Unbeleseneres als einen Buchhändler? Die "Goldene Kamera" bekommt Reich-Ranicki nicht allein; unter anderem auch die Kita-Animateure Sabrina Setlur und Echt erhalten das Stehrümchen. Im Gegensatz zu diesen flauen Existenzen ist Reich-Ranicki wirklich ein Popstar - der erste und dienstälteste Popstar der deutschsprachigen Literatur. Und Reich-Ranicki weiß, was ein Popstar sich schuldig ist: Egal wie hoch ihm die Hosenbeine rutschen im Eifer des Gejabbels - nie zeigt er den fiesen Beinfleischstreifen zwischen Hosensaum und Sockenrand vor. Wahrscheinlich trägt er Strümpfe bis zum Skrotum. Für diese professionelle Umsicht muss man ihn bewundern. Um aber mit Reich-Ranicki selbst zu sprechen: Mit Littärattur hat daß nichtß tßu tun.

Quelle: taz, 11.02.2000, s. 20.
Abgesehen davon, daß Kollege Droste zu den Neudeutsch-Recht(s)schreibenden Feinden des "ß" gehört, ist diese Kritik a) sicher gelungen und b) alles andere als entisemitisch, auch wenn es in der taz empörte Leserbriefe gab, die sich aber niemals auf die "Moral-Keule" Antisemitismus bezogen, obwohl das durchaus möglich wäre, wenn man nur richtig (fehl-) interpretiert.

Den Maestro Grass ("Ikea-Schriftsteller") richtet Droste übrigens auch hin; ich zitiere ihn mal ohne eigene Meinung ;-).

Zitat:
Zitat von Wiglaf Droste
Wie die irische Literatur entsteht

Die irische Literatur hat mit aller anderen Literatur gemein, dass sie von Aufschneidern und Prahlhänsen gemacht wird. Gegenüber der deutschen Literatur hat die irische den entscheidenden Vorzug, dass die Aufschneider und Prahlhänse keine Langeweiler sein dürfen. In einem Land, das Jonathan Swift, Oscar Wilde, George Bernard Shaw, Flann O'Brien und Brendan Behan feiert, hätte der Ödling Günter Grass erfreulich wenig Chancen. Grass, das wissen wir von ihm selbst, wurde in Deutschland von Verfolgung und Tod in Gestalt des HB-Männchens Marcel Reich-Ranicki bedroht. Jetzt garantiert der Literaturnobelpreis seinem Träger Günter Grass wenigstens ein Minimum an Schutz. So kann sich der Poseur der Aufklärung auch weiterhin bei literaturkarnevalistischen Festakten als Gewissen der Nation verkleiden und Leute protestantisch anduzen, mit denen er angeblich einmal befreundet war, aber wer will das wissen? "Halt's Maul! Trink deinen Rotwein!", suppt es aus dem Schriftsteller heraus, der sich für interkontinental hoch bedeutsam hält, obwohl es nur zur guten alten Inkontinenz reicht. Am liebsten wäre Grass Präsident von der ganzen Welt. Das Leben des erstaunlich schlicht gestrickten Schnäuzerträgers kann in einem Satz zusammengefasst werden: Das Leben ist ein langer, zäher Redefluss.

In Irland fließt etwas anderes als Altmännerspucke. James Joyce beschrieb die Bewohner Dublins als "die hoffnungsloseste, nutzloseste und widerspruchsvollste Rasse von Scharlatanen, der ich je auf der Insel oder auf dem Kontinent begegnet bin. Der Dubliner verbringt seine Zeit mit Schwatzen und Rundgängen durch die Bars, Schänken und Spelunken, ohne je seine doppelten Quantitäten von Whiskey oder Home Rule satt zu kriegen, und nachts, wenn nichts mehr reingeht und er mit Gift angefüllt ist wie eine Kröte, stolpert er aus einem Nebenausgang und geht, geleitet vom instinktiven Wunsch nach Standhaftigkeit, der geraden Häuserfront entlang und schrubbt seinen Rücken an allen Mauern und Ecken."

Der letzte Teil dieser Liebeserklärung enthält den Schlüssel zur irischen Literatur. Es ist das Rückenschrubben, das den Iren einzigartig macht. Der Ire ist ein Bär und braucht einen Kratzbaum, an dem er sich scheuern kann. Wo immer man ihn trifft, in seiner Wohnung, beim Hunderennen, in der Kneipe, lehnt der Ire an einer Wand, einer Absperrung, einem Zaun, einem Türpfosten und schubbert sich das Kreuz. Iren heiraten, weil es Stellen am Rücken gibt, an denen man sich alleine nicht kratzen kann. Wenn aber die Ehefrau nicht da ist, schrubbt der Ire seinen Rücken notgedrungen solo, an Mauern und Ecken und allem anderen Geeigneten, dessen er habhaft werden kann. Dabei brummt er behaglich und verzieht das Gesicht in genießerischer Verzückung.

Wenn er sich nicht kratzen kann, muss der Ire sublimieren. Dann macht er Musik, die so sehnsuchtsvoll, traurig und beglückend ist, dass man davon weinen muss. Oder er schreibt Literatur, großmäulig, aufschneiderisch, großherzig, überbordend, von keinen Pooka-Geistern verlassen und so fantastisch, dass selbst ein Ikea-Schriftsteller wie Günter Grass davon ans Träumen kommen müsste, wenn er wüsste, was das ist.

Quelle: taz, 08.10.1999, s. 36.
Lesenswert auch eine etwas ältere Reich-Ranicki-Kritik:

Zitat:
Zitat von Wiglaf Droste
Im Bordell "Zum fröhlichen Marcel"

Oft kommt es nicht vor, daß die Bild am Sonntag etwas über die Belange der Literatur und ihrer Kritik mitzuteilen hat. Wenn sich die Sache aber mit Geschrei und Untenrum zusammenschnüren läßt, sind auch die schmierigen Jungs von der Springer-Lohnliste mit von der Partie. "Schriftstellerin bot Sex für eine gute Kritik" hieß entsprechend die Überschrift eines Interviews, das die BamS Ende Juni mit Marcel Reich-Ranicki führte; da klang schon fast alles an, was BamS-Truppe und Reich-Ranicki selbst unter Literarischem Leben subsummieren.

"Hat ein Autor, hat ein Verlag schon einmal versucht, Sie zu bestechen?" fragt die BamS treuherzig; "schon einmal" ist wirklich hochkomisch formuliert. Reich- Ranicki antwortet routiniert: "In einer sehr ungünstigen Besprechung eines Buchs von mir im Spiegel - ganz zu Anfang meiner Laufbahn - stand, ich sei unbestechlich. Das hat die Branche wohl geglaubt. Die Folge ist: Kein Verleger hat versucht, mich zu bestechen." BamS fragt nach: "Ein Schriftsteller?" Reich-Ranicki wählt die Methode "Wenn der Senator erzählt": "Vor vielen Jahren hat eine Romanautorin mich spätabends in sehr unmißverständlicher Weise in ihr Hotelzimmer eingeladen. Ich bin nicht hingegangen, habe auch nichts über ihr Buch geschrieben. Im Gegensatz zu einem Kollegen, der das Angebot angenommen, mit der Frau geschlafen und sich anschließend lobend über ihr Werk geäußert hat."

Wer nun dieser "Kollege" gewesen ist - Hellmuth Karasek? Jürgen Busche? Werner Fuld? Reich-Ranicki unter Pseudonym? - will die BamS nicht wissen, sondern fragt lahm: "Der Name der Dame?" Und Reich-Ranicki freut sich: "Jetzt kommt die Pointe. Ich habe ihren Namen vergessen. Sie spielt also keine Rolle in der Literatur." Da ist nun wirklich alles, alles gelogen; die Geschichte geht vielmehr so, wie sie eine Frankfurter Schriftstellerin erzählt: Daß Reich-Ranicki ihr nach einem Essen launig mitteilte, das Dessert für beide habe er aufs Zimmer bestellt; ihre Ablehnung des Kopulationsbegehrens habe wiederum Reich-Ranicki mit Racheakten in der FAZ quittiert, wo er die Schriftstellerin zuvor, als er sich für seine Avancen noch Chancen ausrechnete, heftig gelobt hatte.

Branchenbekannt ist auch das Reich-Ranickische Renommieren vor versammelten Hotelbarmannschaften, sein großes Geprahle mit tatsächlichen oder erfundenen Bettgeschichten und seine ohne jede Zurückhaltung zur Schau gestellte Begeisterung darüber, daß der Betrieb eben grundkorrupt funktioniert und hie und da tatsächlich auch für einen alten Knacker wie ihn noch sexuelle Früchte abwirft. Gerne begrüßt Reich-Ranicki Literaturbetriebsangehörige, so wird's von eben diesen Literaturbetriebsangehörigen erzählt, mit der Frage: "Wen fickän Ssie dänn gerradä?" Beinahe wollte einem seine legendäre Unterhosenschnüffelei und seine Neugier, die Bettlaken des Betriebs betreffend, schon romanhaft komisch erscheinen. Doch so, wie die Sittenpolizei Schlüpfrigkeit erst produziert, ist Reich-Ranicki der Tugendwächter des Literaturbetriebs: Er, einer der korruptesten von allen, hat die Hohe Moral auf der Pfanne. Und sortiert munter ein und aus, wer zur Chimäre seines Literarischen Lebens gehört, diesem Bordell Zum fröhlichen Marcel.

Quelle: taz, 11.07.1997, s. 20.
Ach ja, die Segnungen digitalisierter Zeitungsarchive ;-) ...

MfG
tw_24