Thema: Reisepläne
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26. July 2005, 20:04   #5
Maggi
 
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Entgegen der früheren Lobeshymnen auf die bundesdeutsche Hauptstadt gibt es natürlich auch negative Seiten. Berlin ist wirklich nicht zu empfehlen für verwöhnte Klassen aus Münchens Süden, die auch in Berlin schlafen wollen. Jeder Pädagoge, der verantwortlich ist für eine größere Ansammlung von Jugendlichen muss ihnen ein paar Stunden Schlaf gönnen, auch wenn sie erst um 4 ins Bett kommen. Wird nicht die Mindestschlafzeit von 6 Stunden eingehalten, spielt man nicht der Aufmerksamkeit der Jugendlichen in die Hände, sondern eher der Übermüdung und den olympischen Augenringen.
Es tut den Klassen des Weiteren nichts Gutes, wenn sie aus dem regnerischen München gen Norden fahren und dabei auf eine Hitzewand von 34 °C im Schatten treffen. Einfach so, ein paar Kilometer vor Berlin. Temperaturschock!
Drittens ist es nicht von Vorteil, wenn Berlin fast 600 km weit entfernt liegt. So gute Dinge sollten näher an München liegen.

Wie soll man Berlin jemandem beschreiben, der selbst noch nie dort war? Der sonst nur die den verdreckten und verregneten Münchner Asphalt kennt? Die schnellste wäre, ihn in einen Zug zu setzen (wenn der Zug nach Berlin fährt, ist das natürlich auch gut). (Die günstigste wäre, ihn zu Fuß nach Berlin zu schicken, aber er soll ja noch lebend ankommen.) Wenn er dann eben aussteigt, Bahnhof Zoologischer Garten, und glücklicherweise nicht weiß, dass er noch 1 ½ Stunden in dieser Hitze zubringen muss, bevor er ins Hotel gelangt … wenn er dann in der Ferne (200 m) die Gedächtniskirche im Sonnenlicht schimmern sieht … wenn er sich dann geblendet die Hand vor die Augen hält … wenn er auf dem Platz vor sich Berliner und Touristen (auf den ersten Blick sind diese Spezies nicht unterscheidbar) friedlich Eis essen und den Nachmittag in einer ruhigen Feier zelebrieren sieht, dann könnte er meinen, er sei im Großstadtparadies.

Leider trifft das auf uns nicht zu. Unser Hotel lag im ehemaligen Osten, nämlich in Lichtenberg/Marzahn. Wenigstens wussten wir nicht, dass die U-Bahn im Osten nur spärlich ausgebildet ist. Dort ist das Reich der Straßenbahnen, der dicken gelben Schnecken, die sich in angemessenem Tempo von Kreuzung zu Kreuzung schleppen. Wir wurden nämlich erstmal in einen Oben-ohne-Bus gepackt, wir unten, das Gepäck oben, damit es auch was mitbekommt von der fremden Stadt. Nach kaum einer Stunde durch den flüssigen Berliner Verkehr waren wir auch schon angelangt, in unserem Comfort Hotel Lichtenberg. Ein Plattenbau ist zwar nicht das Erste, was dem normalen Menschen bei Komfort einfällt, aber dsbzgl. hatte ich sowieso keine hohen Erwartungen.
Die Klassen des letzten Jahres wurden nach Wedding geschickt, in eine Kneipe gegenüber des Trainingsplatzes von Galatasaray Wedding (oder so).

Kaum waren wir also da, wurde es Nacht, und wir durften das erste Mal Berlin erleben. Bei Nacht, und das volle zwei Stunden lang, bis 11. Wir suchten uns einen kleinen Italiener nahe des Alex, direkt unter der S-Bahn-Trasse (mit der Westberliner nie fahren wollen, weil sie damals von Ostberlin betrieben wurde). Der war hübsch mit einigen Pflanzen dekoriert und war der erste Italiener, den wir gefunden hatten.

Wir waren um 11 wieder daheim, um 3 im Bett und um 7 auf den Beinen. Wir hatten viel vor. Für den Dienstag war das angemeldet, was jeder Berlinbesucher macht, wenn er in Berlin ist: Er besucht den Reichstag und schaut, was der Bundestag macht, wenn er ist. Der Bundestag war allerdings genauso wenig wie die Kuppel, die eine Reinigung über sich ergehen lassen musste. Fasziniert beobachteten wir die blauen Sessel, staunten über die vereinzelten Sessel mit höherer Rückenlehne (für die VIPs!) und liefen hinüber in das … wie hieß es noch, in das Gebäude da halt. Da konnte man Mittag essen, das war gut.

Auf der anschließenden Spreerundfahrt, während der wir erstaunliche 1000 Meter des an der Spree liegenden Berlins bestaunen konnten, gespannt die Köpfe unter Berlins niedrigsten Brücken reckten und herzhaft über den so typisch Berlinerischen Humor lachten („Der letzte, der hier aufstand, lag zwei Jahre im Charité“ ) bekamen 40 Münchner einen Sonnenbrand. Das war das aufregende Erlebnis des Tages, denn danach besichtigten wir das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das Brandenburger Tor ist seit 120 Jahren eine einzige Baustelle, und als wir es endlich zum Stelenfeld geschafft hatten, wurden wir enttäuscht. Ich hatte mir den Eindruck angelesen, die Säulen würden bedrohlich beeindruckend und beeindruckend bedrohlich wirken, taten aber in Wirklichkeit keines von beiden. Eher ist das gesamte Denkmal ein akustisches Wunderwerk! Abgeschirmt vom Verkehrslärm kann man in der Sonne in der Mitte des Denkmals entspannen und hört nur das Lachen von Kindern, die zwischen den Stelen Fangen spielen.
Versteht das bitte nicht falsch. Ich persönlich ging schon ruhig in das Denkmal hinein und erwartete eine Erinnerung an die Ermordung von Millionen von Juden durch das Nazi-Regime. Aber nichts von alledem. Schaut man sich nicht die beigefügten Erklärungen und schriftlichen Aufklärungen an, kommt man nicht in Stimmung. Herauszufinden, wofür die doch eher abstrakten schwarzen Säulen stehen, wenn man an einem sonnigen Sommertag Schatten sucht, ist eine schwere Aufgabe. Und durchaus unbefriedigend dazu, wenn man die Erlebnisse und Gefühle zum Beispiel mit denen vergleicht, die bei unserem Schulbesuch der KZ-Gedenkstätte Dachau auftraten. Unbefriedigend dann auch für einen vom Naziterror Betroffenen, weswegen ich manche Reaktionen auf das Denkmal jetzt besser verstehen kann.

Ciao,
Maggi