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25. May 2002, 10:42   #43
jupp11
 
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Ich erweitere hier mal auf Europa:

Zitat:
Das Gespenst des Antisemitismus
Nicht nur der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk beklagt einen neuerlich verstärkt auftretenden Antisemitismus. Doch aus soziologischer Sicht erscheint die These von der Wiederbelebung dieser alten europäischen Geisteskrankheit nicht haltbar.

Von Joachim Helfer

Ein Gespenst geht um in Europa: Der Antisemitismus, diese europäische Geisteskrankheit, die nach Auschwitz führte und von der die Welt – nach Auschwitz – hoffen und glauben durfte, dass sie, wo nicht geheilt, so doch zumindest endgültig als solche begriffen und aus dem öffentlichen Leben verbannt sei, wird im Gegenteil wieder salon-, parolen- und debattenfähig.

So empfinden und äußern es dieser Tage zumindest viele Israelis – und zwar nicht nur Intellektuelle wie der Schriftsteller Yoram Kaniuk, zu deren Handwerk auch die polemische Zuspitzung gehört, sondern auch der als zurückhaltend bekannte Chefdiplomat Shimon Peres. So empfinden und äußern es vor allem auch jüdische Bürger Deutschlands, Frankreichs und anderer EU-Staaten, die das Phänomen aus eigener Anschauung kennen.


Brennende Synagogen

Was erleben sie? Sie erleben erstens, dass Synagogen brennen und Juden auf offener Straße angepöbelt und angegriffen werden. Zumindest lesen sie davon in der Zeitung, meist unter Überschriften wie ‚Zunahme antisemitischer Übergriffe.' Sie lesen auch von Demonstrationen, auf denen Parolen wie «Tod den Juden» gerufen werden. Sie erfahren zweitens davon, dass Gruppen des sich für links haltenden Spektrums politischer Eiferer zum Boykott israelischer Waren, ja selbst von Klezmerkonzerten aufrufen.

Sie sehen drittens, dass die EU-Staaten Israel in Zeiten, da es fast täglich von palästinensischem Terror erschüttert wird, durchaus nicht mit jener bedingungslosen Solidarität beisteht, wie sie den Amerikanern nach dem 11. 9. zuteil wurde. Sie hören schließlich, dass sogar Vertreter des politischen Establishments wie der FDP-Vize Möllemann Verständnis für die palästinensischen Attentate aufbringen.



Was ist Antisemitismus?

Yoram Kaniuk zieht, sicher stellvertretend für nicht wenige Israelis und Juden in aller Welt, in einem Interview mit der Zeitung Die Welt vom 14.Mai aus all dem diesen Schluss: «Die Europäer suchen ein Alibi, sich von alter Schuld zu entlasten und gleichzeitig alten Antisemitismus wieder zu beleben. (...) Das ist kein Verfolgungswahn mehr. Wir sind zurück in der Wirklichkeit Europas.» Dieser Schluss ist vor dem Hintergrund der Leidensgeschichte der Juden und angesichts der gegenwärtigen Lage Israels verständlich; die Frage bleibt dennoch, ob er richtig ist.

Das aber erweist sich nicht an einzelnen Äußerungen und Vorfällen innerhalb pluralistischer Gesellschaften, sondern nur in der Analyse europäischer Politik einerseits, und der soziologischen Untersuchung europäischer Einstellungen andererseits. Dazu muss man zunächst die Begriffe klären: Wenn Antisemitismus eine europäische Geisteskrankheit ist, nachweislich im kulturellen Kontext des christlichen Abendlands entstanden – gehört es dann in die Kategorie ‚Antisemitischer Übergriff', wenn arabisch-muslimische Jugendliche, Kinder palästinensischer Asylbewerber etwa, einen Rabbiner angreifen? Die Empörung darüber, dass derlei überhaupt geschieht, auf den Straßen der einstigen Hauptstadt des dritten Reichs zumal, ist keine Antwort.



Demographische Widerlegung

Ein Wiederaufflackern des europäischen Antisemitismus, und das ist ja die These, ließe sich mit derartigen Vorfällen nur dann belegen, wenn die Staatsgewalt sie weniger entschlossen zu verhindern oder doch wenigstens aufzuklären und zu bestrafen versuchte, als andere ähnlich schwere Verbrechen. Das genaue Gegenteil ist der Fall, von Berlin bis Marseille.

Das tatsächliche Ausmaß antisemitischer Vorbehalte in der Bevölkerung wurde zumindest in Westdeutschland seit dem Krieg immer wieder soziologisch erfasst. Dabei zeigte sich gerade nicht, wie Kaniuk aus der verständlichen, aber verzerrenden Perspektive eines potentiellen Opfers unterstellt, dass der Antisemitismus nach Auschwitz «verscheut, aber nicht verscheucht» war, und nun, nach einer «Gnadenfrist», eben wieder durchbreche.

Vielmehr äußerten auch in der fast unmittelbaren Gegenwart von Auschwitz noch eine Mehrheit der Befragten antisemitische Haltungen und Einstellungen, während es in den folgenden Jahrzehnten, mit wachsender historischer Entfernung zu Auschwitz, kontinuierlich weniger wurden – in groben Zahlen von über zwei Dritteln auf unter ein Viertel der Bevölkerung.



Burschenschaftskäppies und Palästinensertücher

Auch wenn dieser Prozess durch die Vereinigung mit der – im Guten wie Bösen – traditionsverhafteteren ostdeutschen Bevölkerung etwas zurückgeworfen wurde, umgekehrt wurde er nie. Die These vom Wiedererstarken des alten europäischen Antisemitismus ist soziologisch unhaltbar. Das bedeutet natürlich nicht, dass es in Deutschland keinen Antisemitismus gebe: es gibt ihn, und zwar nicht nur unter retroschicken Burschenschaftskäppies, sondern auch unter nostalgischen Palästinensertüchern.

Wer hierzulande vor Antisemitismus warnt und Äußerungen zum Nahostkonflikt auf antisemitische Untertöne hin abklopft, hat vor dem Hintergrund unserer Geschichte immer recht. Nur muss diese schwerwiegende Anschuldigung von Fall zu Fall entweder sachlich begründet, oder aber fallengelassen werden. Keineswegs darf die ad hoc Diagnose zur unwiderlegbaren Denunziation jedweder Kritik an der israelischen Politik verkommen – nicht einmal einer so unsensiblen und einseitigen wie der des FDP-Lautsprechers Möllemann.



Wem nützt es?

Als Kalkül auf Stimmen von rechts außen ist sie nämlich gerade nicht gut erklärbar: die Zahl der latent antisemitischen Nationalliberalen alten Schlags, die bisher nicht ohnehin schon FDP gewählt haben, dürfte kaum dreistellig sein, und die neue akademische Rechte ist ausdrücklich antiliberal. Wer an unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei Verschwörungstheorien in die Welt setzt, wird sich fragen lassen müssen: ‚Wem nützt es?'

Die berechtigten Anliegen Israels hatten und haben in Europa einen zuverlässigen Anwalt – für den unberechtigten Anspruch auf Groß-Israel ist es nicht zu gewinnen, auch nicht mit der Drohung, unter Antisemitismusverdacht zu geraten.
Ein interessanter Artikel, wie ich finde....