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6. November 2005, 00:58   #5
Ben-99
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... dabei waren es nur die Schicksale von 4 Familien, die man herausgegriffen hat. 4 von über 300, die einen toten Angehörigen zu beklagen hatten, 4 von Tausenden, die in der Nacht schwerverletzt worden waren, und 4 von Zehntausenden, die bei dieser Katastrophe alles was sie besaßen, verloren hatten. Und das gerade mal 17 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele von ihnen auch nur noch ihr nacktes Leben retten konnten, weil ihre Häuser und Wohnungen von Bomben zerstört waren.

Und zu dem Horror der Naturgewalten gesellte sich dann auch noch das Grauen der Bürokratie. Für mich noch am unerträglichsten: der junge Familienvater, den man als Werftarbeiter in dieser Nacht zwang, seine Nachtschicht bis zur letzten Minute untätig in der Kantine abzusitzen, weil wegen des Sturms der Arbeitsbetrieb in den Docks nicht mehr möglich war.

Und während ihm, dem Ahnungslosen, nur langweilig war und er nicht wußte, wie er die Zeit totschlagen sollte, bis er endlich die Stempeluhr bedienen und nach Hause fahren konnte, waren die ganze Zeit nur wenige Kilometer von ihm entfernt seine Frau und seine Kinder in Todesangst auf sich allein gestellt. Und das einzige was er hinterher für sie noch tun konnte war, ein paar Tage später ordnungsgemäß ihre Leichen zu identifizieren.

Als ich sah, wie er heute ruhig und gefaßt darüber spricht, hatte ich mich unwillkürlich gefragt, ob ich bei dieser Wut und Trauer, die der Mann nun schon seit über 40 Jahren in seiner Seele trägt, damals auch hätte weiterleben können. Auf jeden Fall sollte man ihm dankbar sein, daß er damit einverstanden war, bei der Dokumentation mitzuwirken, um, zusammen mit den anderen Zeitzeugen, der Katastrophe ein "Gesicht" zu geben. Denn nur dann werden solche Ereignisse auch für Nichtbetroffene in Erinnerung bleiben. Alles andere sind nur Kalenderdaten und nüchterne Zahlen, die uns emotional nicht bewegen, so daß es uns auch nicht lange im Gedächtnis bleibt.

Daß man als Autor, Regisseur und Interviewer das seltene Fingerspitzgefühl besitzt, diesen Menschen das Gefühl zu geben, daß sie hinterher im fertigen Film nicht Millionen von Schaulustigen "vorgeführt" werden, hat Reymond Ley mit seinem Doku-Drama eindrücklich bewiesen, wofür er auch heute noch mal viel Lob im "Hamburger Abendblatt" erhielt (siehe unten).

Mir persönlich werden auch die Original-Aufnahmen von dem Zelt auf der Kunsteisbahn so schnell nicht mehr aus dem Sinn gehen, in dem man die Toten bis zur Identifizierung durch die Angehörigen gelagert hatte. "Planten & Blomen" liegt im Herzen der Stadt und ist für Hamburg in etwa das, was für New York der Central-Park ist. Und als Kind bin ich oft auf dieser Bahn gefahren. Wenigstens weiß ich jetzt, immerhin 43 Jahre später, warum mir meine Großeltern damals nicht sagen wollten, warum die Eislaufbahn gesperrt ist.

Gruß Ben


Zitat:
Erschütternd

TV-Kritik

Von Andrea Kaiser

DIE NACHT DER GROSSEN FLUT (Freitag, ARD)

Katastrophen berühren einen um so intensiver, je näher der Ort des Geschehens liegt - das gilt auch noch mehr als 40 Jahre nach dem Ereignis. Raymond Leys "Doku-Fiktion", wie der Sender die spannende Mischung aus Spiel- und Dokumentarszenen nennt, dürfte aber nicht nur Hamburgern unter die Haut gegangen sein. Dabei vertraute Ley weitgehend auf die Dramatik der Ereignisse, statt - wie sonst allzu oft bei TV-Katastrophen-"Events" der Fall - gar zu tief in die Kintopp-Schublade zu greifen. Die beispielhaft geschilderten Schicksale von vier Familien, die nach dem Weltkrieg noch ein Trauma durchleiden mußten, erschütterten auch ohne musikalisches Dauergebrause. Ungewöhnlich gut gelungen: die Verschmelzung von historischen Dokumentarszenen, Interviews mit Zeitzeugen (darunter der obligat zigarettenrauchende Helmut Schmidt, 1962 Polizeisenator) und nachgestellten Szenen (mit einem zackigen Ulrich Tukur als jungem Schmidt). Was sonst oft unbeholfen und gestoppelt wirkt, gab hier ein harmonisches Ganzes.

erschienen am 5. November 2005
http://www.abendblatt.de/daten/2005/11/05/500001.html