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20. February 2008, 09:04   #51
Jules
 
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20. Februar 1953: Premiere von Fernseh-Koch Clemens Wilmenrod

Die französische Küche wird von Paul Bocuse revolutioniert. Die junge Bundesrepublik hat Clemens Wilmenrod. Zwischen der Nouvelle Cuisine des Drei-Sterne-Kochs und den abenteuerlichen Kreationen des molligen Bonvivants liegen kulinarische Welten. Doch Clemens Wilmenrod, Deutschlands erster TV-Koch, prägt die Essgewohnheiten der Bundesbürger ebenso nachhaltig wie Bocuse später die seiner Landsleute. Gerade mal acht Wochen ist das deutsche Fernsehen alt, als der kompakte Herr mit ausufernder Halbglatze und feinem Menjou-Bärtchen seine Zuschauer mit einem aufgekratzten "Ihr lieben goldigen Menschen" begrüßt.

"Bitte in zehn Minuten zu Tisch" heißt es am 20. Februar 1953 zum ersten Mal. In seinem "Kochkurs für eilige Feinschmecker" kredenzt Clemens Wilmenrod der noch überschaubaren Zahl an Fernsehteilnehmern um 21.30 Uhr ein denkwürdiges Menü: Fruchtsaft im Glas, italienisches Omelett, Kalbsniere gebraten mit Konservenmischgemüse; zum Abschluss Mokka. Zu Hilfe kommen ihm dabei seine Ehefrau Erika sowie ein "vollelektrischer Schnellbrater" namens Heinzelkoch, der fortan sogar im Abspann genannt wird. Dass der erste TV-Koch der Republik, auf dessen Schürze stets die Karikatur seines eigenen Charakterkopfes prangt, eigentlich gar kein Koch ist, sondern ein Provinz-Schauspieler ohne Fortüne, wird seinem Erfolg nicht im Wege stehen.

Carl Clemens Hahn, 1906 im Westerwald-Örtchen Willmenrod geboren, findet als Urahn von Alfredissimo, Lafer und Co. die Rolle seines Lebens. Als in der Bundesrepublik die Fresswelle anrollt, wird der in Wilmenrod umgetaufte Westerwälder Wonneproppen ihr Prophet. Bei "Don Clemente" verwandelt sich eine Frikadelle in Arabisches Reiterfleisch und paniertes Schnitzel in Venezianischen Weihnachtsschmaus. Dass Koch-Profis angesichts seiner Fantasie-Menüs regelmäßig die Nasen rümpfen, stört den selbsternannten "Bundesfeinschmecker" überhaupt nicht. Elf Jahre lang genießt Clemens Wilmenrod auf dem Bildschirm Narrenfreiheit. Produkte, die er in seiner Sendung anpreist, werden am nächsten Tag in den Läden aus den Regalen gerissen. 1964, nach 185 Sendungen, wird der Erfinder des Hawaii-Toasts von seinem Haussender NDR abserviert. Drei Jahre später, am 12. April 1967, setzt der an Krebs erkrankte Clemens Wilmenrod seinem Leben mit einer Pistolenkugel ein Ende.

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21. February 2008, 09:09   #52
Jules
 
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21. Februar 1933: Geburtstag der Sängerin Nina Simone

In einem goldfarbenen Glitzertop lässt sie sich auf die Bühne führen. Regungslos, unsicher, wie abwesend steht sie Anfang der 90er Jahre vor ihrem Kölner Publikum, sichtbar um Haltung bemüht. Das Leben hat deutliche Spuren hinterlassen. Es dauert, bis die schwarze Diva auf Touren kommt. Ihre deutschen Fans sind dankbar, Nina Simone überhaupt noch einmal live erleben zu können. So legendär die Konzerte der "Hohepriesterin des Soul", so berüchtigt sind ihre kurzfristigen Absagen. Nach drei Songs wird Nina Simone lebendig, fängt Feuer. Nach "My baby just cares for me" reißt sie die Menschen von den Sitzen. Diesem 30 Jahre alten Song, der 1987 einer Chanel-Werbung zu Aufmerksamkeit verhalf, verdankt Nina Simone ihre Rückkehr ins Rampenlicht. Hinter ihr liegt eine wechselvolle Karriere, in der die schlechten Zeiten die guten überwogen.

Als Eunice Kathleen Waymon wird sie am 21. Februar 1933 in einem Nest in North Carolina geboren. Mit zwei Jahren spielt sie Klavier, mit fünf Bach und Beethoven. Eunice absolviert die New Yorker Juillard School und ist entschlossen, Amerikas erste schwarze Konzertpianistin zu werden. Doch im renommierten Curtis Institut in Philadelphia will man das große Talent nicht haben. Es ist Ninas erste Konfrontation mit dem Rassismus und prägt sie ein Leben lang. Weil der Weg in die Konzertsäle verschlossen bleibt, schlägt sie sich als Bar-Pianistin durch - stets als Diva gekleidet. In jener Zeit entwickelt Nina Simone einen unkonventionellen Mix aus Jazz und Blues, Soul, Gospel, Pop und klassischen Elementen. Er wird - neben der markanten, kraftvollen Stimme - zu ihrem Markenzeichen.

Seit Beginn ihrer Karriere gilt Nina Simone als extravagant und launenhaft. Gefürchtet ist die Perfektion, die sie ihren Musikern abverlangt, berüchtigt die Herablassung, die sie ihrem Publikum gegenüber zuweilen zeigt. Sie kann es sich leisten. Die Welt reißt sich um sie. In den 60er Jahren engagiert sich die Königin des Bar-Jazz als Bürgerrechtsaktivistin, wird mit ihrem Song "Mississippi Goddam" zu einem Sprachrohr der Bewegung. Der Mord an Martin Luther King 1968 wirft sie aus der Bahn. Nina Simone sucht ihr Glück auf Barbados und in Liberia, macht mit Skandalen Schlagzeilen. Rastlos, hoch verschuldet und depressiv zieht die alkoholkranke Diva durch Europa, bis sie fast völlig vergessen in Südfrankreich zur Ruhe kommt. 1987 spült "My baby just cares for me" sie zurück auf die Konzertbühnen. Krebskrank, aber mit ungebrochenem Stolz, nimmt sie Ende der 90er Jahre ihr letztes Album "Simone Superstar" auf. Zwei Monate nach ihrem 70. Geburtstag stirbt Nina Simone am 21. April 2003 in ihrem Refugium nahe Aix-en-Provence.

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22. February 2008, 09:57   #53
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22. Februar 1793: Friedrich Wilhelm Harkort wird geboren

Harkort-Turm, Harkort-Schule, Harkort-Straße, Harkort-See - von Hagen über Wetter bis nach Dortmund ist der Familienname Harkort gegenwärtig. Er erinnert an den Unternehmer, Politiker und Sozialreformer Friedrich Wilhelm Harkort. Der "Vater des Ruhrgebiets", wie er später genannt wird, kommt am 22. Februar 1793 auf dem väterlichen Gut in Harkorten zwischen Hagen und Gevelsberg zur Welt. Die Familie zählt seit dem 16. Jahrhundert zu den bestimmenden Familien im Märkischen. Der Sohn eines Kaufmanns und Gutsbesitzers gilt als schwierig und schroff, aber auch als begabt und fleißig. Nach Volks- und Gewerbeschule macht er in Wuppertal-Barmen eine kaufmännische Lehre. 1818 kauft er die Burg Wetter und gründet dort die "Mechanischen Werkstätten", das erste Eisenindustrie-Werk in Westfalen. Harkort segelt nach England, um Arbeiter mit Maschinenkenntnissen anzuwerben.

"Wir sind nicht auf der Welt, um stillezustehen und zu genießen, sondern um fortzuschreiten", lautet einer von Harkorts Wahlsprüchen. Der Industrie-Pionier errichtet eine Werkschule für seine Arbeiter, investiert in Transportwege zu seiner Burg, erschließt neue Absatzmärkte, kauft Werke hinzu - und scheitert doch. Er muss seine Maschinenfabrik, die die "Preussische Staatszeitung" 1822 noch als eine der "merkwürdigsten und bewundernswertesten Anstalten Deutschlands" gepriesen hat, verkaufen, weil der wirtschaftliche Erfolg ausbleibt. Harkort scheitert auch mit seinem Vorstoß, Eisenbahnen in Deutschland einzurichten, und seinem Traum, auf dem Rhein die Dampf-Schifffahrt einzuführen. Fast 20 Jahre ist Harkort als Unternehmer tätig. 1838 steht er mit 45 Jahren endgültig vor dem Aus: "Mich hat die Natur zum Anregen geschaffen. Das Ausbeuten muss ich anderen überlassen."

In der zweiten Lebenshälfte widmet sich Harkort der Politik und wird 1871 für drei Jahre Mitglied im Deutschen Reichstag. Er fordert Freihandel nach innen und Schutzzölle nach außen, setzt sich aber auch für bessere Arbeitsbedingungen ein: Verbot von Kinderarbeit, gesetzlich festgelegte Arbeitszeit, Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer. Harkort wird zu einem Wegbereiter der Sozialversicherungen für Kranke und Alte - nach seiner Idee finanziert durch Beiträge der Arbeiter und Zuschüsse der Unternehmer. Auch als Bildungspolitiker profiliert sich Harkort: "100.000 Fibeln, die 3.000 Taler kosten, haben einen größeren Wert für die Erziehung der Menschheit als 100.000 Bewaffnete, die jährlich neun Millionen verschlingen." Er initiiert Gewerbeschulen, weil davon sowohl Arbeiter als auch Unternehmer profitieren. Harkort ist zwar liberal, denkt aber patriarchalisch: Dass Arbeiter seit der Revolution von 1848 ihre Belange selbst in die Hand nehmen wollen, billigt er nicht. Mit 87 Jahren stirbt Harkort am 8. März 1880 in seinem Haus in Dortmund-Hombruch.

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24. February 2008, 14:07   #54
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23. Februar 48: Kaiserin Messalina wird ermordet

In Kapuze und Mantel steht die römische Kaiserin Messalina auf dem Forum und sieht "mit flackerndem, glühendem Blick" zu den nackten Huren Roms auf ihren hohen Stühlen empor. Dann wirft sie ihr Gewand ab und preist sich selbst den Freiern an. "Messalina hat die Brüste mit Kettchen vergoldet, der Schmuck glänzt im Fackelschein auf der nackten Haut", beschreibt Heinrich Stadelmanns Roman "Messalina" 1904 die antike Männerphantasie. "Sie schäkert und singt: Männer! Männer! Wer kommt zu mir?"

Die Anekdote um die nymphomanische Kaiserin, die mit Roms berühmtester Hure eine Wette um die meisten Männer pro Nacht eingeht (und mit mehr als 25 Liebhabern auch gewinnt), findet sich erstmals im Werk des römischen Satirikers Juvenal. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist sie erfunden. Aber sie prägt das Bild der männermordenden, unersättlichen Herrscherin, die als "meretrix augusta", als "erlauchte Hure" in die Geschichtsschreibung eingeht, maßgeblich mit. Geschichten wie diese verhelfen Messalina, die im ersten Jahrhundert nach Christus als Enkelin des Augustus geboren und mit nur 14 Jahren durch ihre Heirat des wesentlich älteren Claudius zur Kaiserin wird, zum wohl schlechtesten Ruf der Weltgeschichte. Dabei ist die prunksüchtige, intrigante und orgienversessene Messalina vielleicht kaum prunksüchtiger, intriganter und orgienversessener als der dekadente römische Adel ihrer Zeit.

Die eigentliche Quelle für den schlechten Leumund ist wohl Messalinas Todfeindin Agrippina, die ihr nach ihrem Tod ins Bett des Claudius und auf den Thron nachfolgt. Da sie ihren eigenen Sohn Nero zum Nachfolger des Kaisers machen will, ist ihr Messalinas Sohn Britannicus im Weg. Ihn will sie durch die üble Nachrede ebenso wie seine Mutter schwächen. Laut Überlieferung unterschreibt Messalina ihr Todesurteil, als sie sich in den Konsul Gaius Silius verliebt. Claudius' Berater können dem Kaiser daraufhin einreden, seine Frau plane seine Ermordung. Am 23. Februar 48 wird Messalina als Verschwörerin durch das Schwert gerichtet.

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24. February 2008, 14:09   #55
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24. Februar 1998: Gerhard Kienbaum stirbt in Köln

Oktober 1945: Diplom-Ingenieur Gerhard Kienbaum ist mit dem Fahrrad im Bergischen Land unterwegs. Der 26 Jahre alte Kriegsheimkehrer besucht stillliegende Firmen zwischen Engelskirchen und Wipperfürth, um Kunden zu akquirieren. Wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat er sich selbständig gemacht. In seinem Gummersbacher Büro bietet er "Beratung, Übersetzungen, Vertretungen" an. Der erste Auftrag: In Engelskirchen ist einer Firma der Heizkessel im letzten Kriegswinter durch Frost geborsten. Kienbaum analysiert die Lage, entwirft eine Lösung, findet den Fachmann - und drei Tage später ist die Arbeit getan. Kienbaum hat seine Marktlücke als Berater gefunden: "Diese Betriebe müssen flottgemacht werden und wieder den Markt beliefern; das schafft einerseits Arbeitsplätze und lindert andererseits die Not."

Am 12. Oktober 1919 in Wuppertal geboren geht Gerhard Kienbaum nach der Schule zur Marine. Auf dem Panzerschiff "Schleswig Holstein" erlebt er den deutschen Angriff auf Polen. In seiner Zeit als Kadett studiert er Maschinenbau und Betriebswirtschaft an der Technischen Hochschule in Danzig. Ein Studium, das ihm nach dem Krieg zum Erfolg verhilft: Während des so genannten Wirtschaftswunders wächst seine Firma stetig. Mitte der 50er Jahre hat er neben der Zentrale in Gummersbach bereits Zweigbüros in Düsseldorf, Hamburg und Frankfurt am Main. Parallel dazu macht er Politik: In Stadtrat, Kreis- und Landtag engagiert er sich für die FDP. 1962 wird Kienbaum Wirtschaftsminister unter CDU-Ministerpräsident Franz Meyers. Themen seiner Amtszeit sind Kohlenkrise und Zechensterben im Ruhrgebiet. Kienbaum will den Bergbau nicht subventionieren, sondern andere Jobs schaffen. Das macht ihn für die Opposition zur Zielscheibe. SPD-Chef Heinz Kühn attackiert Kienbaum: "Er hat für die Kohle kein Herz." Als die FDP in NRW 1966 mit der SPD koaliert, geht Kienbaum in die Bundespolitik und zieht drei Jahre später ins Bonner Parlament ein.

Viel Zeit für die Familie bleibt nicht. Seine drei Kinder sieht er meistens nur, wenn er zusammen mit ihnen sonntags vor dem Fernseher sitzt und "Bonanza" guckt. Oder wenn die Handballer des VfL Gummersbach ein Heimspiel haben, wie sich Sohn Jochen erinnert: "Er war ein Patriarch, der klare Standpunkte hatte, aber grundsätzlich sehr fürsorglich war." Vor dem Konstruktiven Misstrauensvotum gegen Willy Brandt (SPD) erklären im April 1972 drei FDP-Abgeordnete, sie würden Rainer Barzel (CDU) zum Bundeskanzler wählen. Einer von ihnen ist Kienbaum. Nach dem Scheitern der Abstimmung zieht er sich aus Partei und Parlament zurück. Drei Jahre später schließt er sich zwar der CDU an, konzentriert sich jedoch wieder auf den Ausbau seines Unternehmens. 1986 übernimmt Sohn Jochen die Leitung der mittlerweile international agierenden Wirtschaftsberatung. In den letzten Lebensjahren muss Gerhard Kienbaum wegen Nierenproblemen kürzer treten. Er stirbt am 24. Februar 1998 im Alter von 78 Jahren in Köln.

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25. February 2008, 09:53   #56
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25. Februar 1873: Enrico Caruso geboren

Schlechte Gerüche sind Enrico Caruso zuwider. Gleich nach dem Aufstehen um acht Uhr morgens badet er in Duftwasser, insgesamt drei Mal am Tag. Danach inhaliert und gurgelt er mit lauwarmem Wasser, versetzt mit zehn Tropfen Anis oder fünf Tropfen Orangensaft. Sein Diener muss ihm die Schuhe auch von unten wienern, damit jeder selbst dann bemerkt, wie sauber und wohlduftend alles an Caruso ist, wenn der Opernsänger die Beine übereinander schlägt. Und als sein Sohn einmal vom Reitunterricht ans Krankenbett des Sängers eilt, weckt ihn der Geruch gar aus dem Koma." Mein Sohn, Du stinkst entsetzlich", soll Caruso gesagt haben, während seine Augenlider flackern.

Caruso wird am 25. Februar 1873 in Neapel geboren. Mit zehn Jahren beginnt er im Kirchenchor zu singen. Neun Jahre später nimmt er Gesangsunterricht, trennt sich aber bald von seinem Lehrer, weil dieser die quälende Frage nicht beantworten kann, ob der Sänger, der vom Bassregister bis zum Hohen C alles singen kann, Tenor oder Bariton werden soll. Mit 22 gibt Caruso in Neapel sein Operndebüt und tourt von da an durch alle großen Musikhäuser der Welt. Giacomo Puccini drückt ihn hingerissen an seine Brust. Zum internationalen Popstar der Opernbranche wird er, als er seine Stimme an die englische Grammophone Company verkauft. Es ist der Beginn der kommerziellen Musikindustrie. Zwischen 1902 und 1920 kommen 266 Platten mit Opern, Oratorien und Unterhaltungsmusik von Caruso heraus. Für die Aufnahme von Ruggiero Leoncavallos "Bajazzo" bekommt er eine Million Dollar - und einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde.

Fortan soll sich der vielfache Millionär Caruso als "Geldmaschine" empfinden, ständig begleitet von Versagensängsten. "Als ich unbekannt war, sang ich wie eine Nachtigall vor mich hin", wird er einmal sagen. "Jetzt aber bedrückt mich der Alptraum des Ruhms. Weil die Zuschauer Unsummen zahlen müssen, bestaunen sie mich mit offenem Mund und beneiden mich. Deshalb bin ich der unglücklichste Mensch". Als ein Abszess im Brustraum nicht richtig verheilen will, ist das Unglück des Sängers perfekt. Bei seinem letzten Auftritt in der Metropolitan Opera am Heiligabend 1920 muss Caruso von einer Sängerin gestützt werden, um überhaupt Luft zu bekommen. Er stirbt 1921 auf einer Genesungsreise in Neapel.

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26. February 2008, 09:15   #57
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26. Februar 1948: Max-Planck-Gesellschaft in Göttingen gegründet

Die eigenen Ansprüche sind hoch: "Forschen für die Zukunft", "Exzellenz aus Prinzip", "Wissenschaft von Weltklasse". Die Erfolge werden auf der Homepage aufgelistet: 17 Nobelpreis-Träger hat die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) bislang hervorgebracht. Darunter sind Konrad Lorenz mit seinen Graugänsen, Ernst Ruska mit seinem Elektronenmikroskop, Paul Crutzen, der das Ozonloch erklärte, und Christiane Nüsslein-Volhard, die Grundlegendes zur Entwicklung von Embryonen entdeckte. Die MPG ist ein eingetragener Verein mit Sitz in München und versteht sich als "unabhängige gemeinnützige Forschungsorganisation": "Max-Planck-Institute betreiben Grundlagenforschung in den Natur-, Bio-, Geistes- und Sozialwissenschaften im Dienste der Allgemeinheit."

Entstanden ist die Einrichtung durch eine Umbenennung: Am 26. Februar 1948 wird in Göttingen die Max-Planck-Gesellschaft gegründet - in Nachfolge der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), die durch ihre Rolle im Nationalsozialismus belastet ist. Aus der KWG wird die MPG, mit denselben Instituten, Direktoren und Forschern. Als Namensgeber fungiert der kurz zuvor verstorbene Max Planck, früherer KWG-Präsident und Vater der Quantenphysik. Erster MPG-Präsident wird Nobelpreisträger Otto Hahn, Entdecker der Kernspaltung und ehemaliger Direktor des KWG-Instituts für Chemie. Hahns Nachfolge tritt 1960 Nobelpreisträger Adolf Butenandt an. Als früherer Direktor des KWG-Instituts für Biochemie war er ebenfalls ein profilierter Forscher im "Dritten Reich". Nach dem Krieg vertuscht Butenandt seine NSDAP-Mitgliedschaft und behauptet in einem der Nürnberger Folgeprozesse, er habe nicht einmal den Namen Auschwitz gekannt. Dabei schickte SS-Lagerarzt Josef Mengele Blutproben von KZ-Häftlingen aus Auschwitz an Otmar von Verschuer - Mengeles Doktorvater und Direktor des KWG-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Verschuer hoffte, einen Bluttest entwickeln zu können, um die Rassenlehre der Nazis zu belegen. Butenandt stellte für das Projekt einen Mitarbeiter zur Verfügung.

Um nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitere Verquickung von Politik und Forschung zu verhindern, verlangen die Alliierten, dass die MPG unabhängig von Staat und Wirtschaft sein müsse. Diese Unabhängigkeit beweisen die MPG-Forscher 1957, als sie Atomwaffen ablehnen. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) kritisiert sie dafür, Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) schäumt. Gleichzeitig befürworten dieselben Wissenschaftler Atomforschung und Forschungsreaktoren. Die MPG wird zum Erfolgsmodell: Von 25 Instituten 1948 wächst die Organisation auf mittlerweile rund 80 Institute. Sie wird mit über einer Milliarde Euro vom Staat unterstützt. Das sind fast 30 Prozent der öffentlichen Gelder für Forschungsverbände. Zusätzlich verdient die MPG Geld durch Lizenzeinnahmen und Firmenbeteiligungen: "Wir haben ein Interesse daran, unsere Ergebnisse so weit wie möglich wirtschaftlich auch nutzbar zu machen", sagt der ehemalige MPG-Vizepräsident Klaus Hahlbrock.

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27. February 2008, 08:44   #58
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27. Februar 2003: Daniel Libeskind gewinnt Architektenwettbewerb

Hunderte Journalisten haben sich unter der Glaskuppel des gerade erst wieder aufgebauten Wintergartens im Welthandelszentrum in New York versammelt. Durch die Glasfront blicken sie direkt auf Ground Zero, wo keine 18 Monate zuvor nach dem Terrorangriff vom 11. September 2001 die 400 Meter hohen Zwillingstürme des World Trade Centers einstürzten. An diesem 27. Februar 2003 wird präsentiert, was hier neu entstehen soll. Die Jury erklärt Daniel Libeskind und seinen 541 Meter hohen "Turm der Freiheit" zum Sieger eines internationalen Architektenwettbewerbs. Das entspricht einer Höhe von 1.776 Fuß und soll an die amerikanische Unabhängigkeit 1776 erinnern. Auf der Spitze des Modells befindet sich eine Konstruktion, die der Fackel der Freiheitsstatue im New Yorker Hafen nachempfunden ist.

Libeskind erläutert seinen Bebauungsplan: "In der Mitte eine Flamme, die Gedenkstätte unbebaut, und darum herum eine Spirale von Gebäuden, aus der wieder eine Ikone herausragt: der Freiheitsturm mit dieser Fackel." Die Gebäude sind so angeordnet, dass die Gedenkstätte jedes Jahr am 11. September von Sonnenlicht durchflutet wird - zwischen 8.46 Uhr und 10.28 Uhr, zwischen dem Einschlag des ersten Flugzeugs und dem Einsturz des zweiten Turms. Als ein Architekturkritiker der "New York Times" den Entwurf als "geschmacklose Idee" mit "kitschigem Ergebnis" bezeichnet, wird die Zeitung mit E-Mails überschüttet, die eine Entlassung des Journalisten fordern. Später wird bekannt, dass die Kampagne aus Libeskinds Büro gesteuert wurde. Doch Libeskind schafft es, dass New Yorks Gouverneur Pataki zu seinen Gunsten bei der Jury interveniert. Damit glaubt Libeskind, den Bauauftrag für ein Ensemble von Hochhäusern mit einer Million Quadratmeter Bürofläche in der Tasche zu haben. Ein Bauvolumen von mehreren Milliarden Dollar.

Doch Libeskind freut sich zu früh. Denn bezahlen soll das Ganze der New Yorker Immobilieninvestor Larry Silverstein. Nur sechs Wochen vor dem 11. September hat er das Welthandelszentrum von den New Yorker Stadtwerken in Erbpacht übernommen. Für Silverstein verspricht Libeskinds Entwurf zu wenig Gewinn. Deshalb erteilt er den Auftrag seinem Hausarchitekten David Childs. Die neue Version des "Freedom Tower" ist zwar weiterhin 1.776 Fuß hoch, aber ansonsten nicht wieder zu erkennen. Er ist nun ein klassischer Wolkenkratzer mit 69 Büro-Etagen und antennenartiger Spitze. Nach außen macht Libeskind gute Mine: "Für mich ist es jetzt wie für einen Komponisten, der eine Partitur geschrieben hat und sie nicht selbst zur Aufführung bringt." Der Grundstein wird am 4. Juli 2004 gelegt, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag. Der Gebäude soll 2011 fertig sein. Einen Leerstand muss Silverstein nicht befürchten. Er hat den Turm bereits an die New Yorker Stadtwerke zurückvermietet.

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28. February 2008, 14:11   #59
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28. Februar 1973: Der DFB erlaubt Trikot-Werbung in der Bundesliga

Geld schießt keine Tore? Schön wär's ja, doch ein Blick in die Tabellen von Europas Top-Fußballligen beweist das Gegenteil. Auch in der Bundesliga stehen am Ende der Saison regelmäßig jene Klubs ganz oben, die über die dicksten Etats verfügen können. Jahrzehnte hat der Deutsche Fußballbund (DFB) versucht, am Ideal des sauberen Amateursports festzuhalten. Selbst nach Einführung der Bundesliga 1963 bleiben die Gehälter der Profis auf heute lächerlich wirkende Summen begrenzt. Die Vereine verdienen ausschließlich an Eintrittsgeldern und, ab 1965, auch an den fortan immer teurer werdenden Übertragungsrechten. Den endgültigen Durchbruch zur totalen Kommerzialisierung des Fußballs bringt Anfang der 70er Jahre ein Spirituosenfabrikant aus Wolfenbüttel bei Braunschweig ins Rollen.

Für Günter Mast, Hersteller des Kräuterlikörs "Jägermeister", gehört Klappern zum Handwerk, je lauter desto besser. Als die ARD eine Länderspiel-Übertragung wegen zuviel Werbung absagen will, bucht Mast für 200.000 D-Mark sämtliche Seitenbanden - und lässt sie weiß. Die Aktion bringt Jägermeister europaweit in die Schlagzeilen. Zusammen mit dem Präsidenten des hoch verschuldeten Bundesligisten Eintracht Braunschweig plant der Likörfabrikant einen Coup, der zur Revolution im deutschen Profifußball führt. Dem DFB in Frankfurt wird mitgeteilt, dass der Löwe im Wappen der Eintracht seinen Platz für einen Hirschen räumt. "Weil die nicht wussten, dass der Hubertus-Hirsch das Wahrzeichen meiner Firma Jägermeister war", kann Mast den DFB-Oberen einen Bären aufbinden: "Löwe oder Hirsch, das war den ahnungslosen Herren egal." Dass Jägermeister sich die Aktion pro Jahr 300.000 Mark kosten lässt, lässt Mast natürlich im Dunklen.

Am 27. Januar 1973 treten die Braunschweiger Spieler gegen Kickers Offenbach erstmals mit einem 18 Zentimeter großen Hirsch auf dem Trikot an. DFB-Chef Hermann Gösmann erkennt, dass er von Mast ausgetrickst worden ist und lässt den Werbe-Hirsch prompt verbieten. Der folgende Kleinkrieg zwischen Eintracht Braunschweig und dem mächtigen Fußball-Verband beschert dem kampflustigen Likörfabrikanten erneut eine unbezahlbare Medienpräsenz. Per Einstweiliger Verfügung und mit einem leicht geschrumpften Wappentier zwingt Mast die DFB-Bosse schließlich in die Knie. Am 28. Februar 1973 genehmigen sie das erste Trikot-Sponsoring in der Bundesliga. Sechs Jahre später haben bereits alle Erstligavereine ihre Trikotflächen zu Werbezwecken freigegeben - für insgesamt sieben Millionen Mark. Heute geben Sponsoren zusammen das 40-fache, nämlich 130 Millionen Euro für ihre kickenden Litfasssäulen aus. Die meisten Vereine sind als Kapitalgesellschaften organisiert; aus dem Fußballspiel ist ein Produkt geworden. Aber zum Glück immer noch ein unkalkulierbares.

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29. February 2008, 16:44   #60
Jules
 
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29. Februar 1908: Schriftsteller Dee Brown geboren

Jack Wilson alias Wovoka gibt den Sioux im 19. Jahrhundert Hoffnung. Die Kugeln der Weißen würden sie nicht verwunden, prophezeit das Halbblut, wenn sie wie ihre Vorfahren tanzen würden. Also tanzen die Indianer, das öffentliche Leben in den Reservaten von South Dakota kommt zum Stillstand. Die Regierungsbeamten schicken Truppen. Am kleinen Fluss Wounded Knee eskaliert 1890 die Lage. Wahllos schießen Kavalleristen in die tanzende Menge. Wovoka hat gelogen: Mehr als 300 Mitglieder der "Geistertanzbewegung" kommen ums Leben. "Es war ein Abschlachten ", sagt der Amerikanist Karsten Fitz von der Universität Passau heute: "vor allen Dingen von Frauen und Kindern und alten Leuten".

Das Massaker am Wounded Knee wird zu einer der größten Wunden in der US-Geschichte. Zunächst aber wird es totgeschwiegen. Die meisten Weißen erfahren erst ein dreiviertel Jahrhundert später von dem Gemetzel - wie auch von anderen Gräueltaten der Siedler, Goldsucher und Soldaten an den Ureinwohnern. Auslöser ist ein Buch: "Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses", das der Schriftsteller Dee Brown 1970 veröffentlicht und den Indianern damit eine späte Stimme gibt. Vom Autor selbst ist nur wenig bekannt. Geboren wird er am 29. Februar 1908 in Louisiana. Im ländlichen Arkansas bekommt er in seiner Jugend erste Kontakte zu Indianern. Den Großteil seines Lebens verbringt er als Bibliothekar an der Universität von Illinois.

Als "Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses" erscheint, ist Brown 62 Jahre alt. Danach schreibt er noch einige wenige, eher unbedeutende Romane und Kinderbücher, bevor er 2002 stirbt. Das Debüt aber wird zum Bestseller. Den Indianern nützt das wenig. Zwei Drittel der Sioux im Reservat am Wounded Knee leben unterhalb der Armutsgrenze. Viele Familien haben weder Strom noch fließendes Wasser. Die Lebenserwartung - 47 Jahre bei den Männern, 52 Jahre bei den Frauen - ist eine der geringsten in der westlichen Welt.

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3. March 2008, 09:41   #61
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01. März 1983: Die Swatch-Uhr kommt auf den Markt

Ende der 70er Jahre ist es für die Schweizer Uhrenindustrie fünf vor zwölf. Ihr weltweiter Marktanteil, einst stolze 70 Prozent, beträgt gerade noch zehn Prozent. Den preiswerten Quarzuhren der aufstrebenden japanischen Konkurrenz können die Jahrhunderte alten Manufakturem mit ihrer teuren Präzisionsware nichts entgegensetzen. Um Traditionsmarken wie Longines, Tissot oder Omega vor dem sicheren Untergang zu retten, rufen die Gläubigerbanken einen branchenfremden Unternehmensberater aus Zürich zu Hilfe. Alleiniger Herrscher über gut drei Viertel der Schweizer Uhrenproduktion wird Nicolas Hayek, Sohn eines US-Professors und einer Libanesin, geboren in Beirut, studierter Mathematiker und Physiker. Das "Handelsblatt" nennt ihn einen egomanischen Tausendsassa.

Hayek durchforstet sein marodes Reich und stößt dabei auf die bislang wenig geschätzten Pläne zweier junger Ingenieure. Sie haben eine Uhr entwickelt, die nicht mehr wie die Traditions-Chronometer aus über 150 Teilen besteht, sondern nur noch aus 51. Und diese Teile sollen nicht von Uhrmachern, sondern von Industrierobotern gefertigt und montiert werden. Nicolas Hayek erkennt das Potential dieser Idee und erweist sich als genialer Marketingstratege. Er kreiert eine quietschbunte Plastikuhr mit poppigem Design, garantiert dazu die sprichwörtliche Schweizer Qualität und bringt sie zum Schnäppchenpreis von 50 Franken auf den Markt: die Swatch ist geboren. Begleitet von einer bombastischen Werbekampagne wird sie am 1. März 1983 in Zürich der Öffentlichkeit präsentiert. Vom Start weg geht die Swatch ab wie eine Rakete. Nach zwei Jahren sind bereits vier Millionen Stück verkauft, 1988 sind es 50 Millionen.

Mit Hilfe limitierter Künstler-Editionen und zweimal jährlich wechselnder Kollektionen erfindet Nicolas Hayek den zuvor unvorstellbaren Trend zur Zweit- und Drittuhr und zum Sammler-Objekt. Mit spektakulären PR-Aktionen gibt er dem Swatch-Hype ständig neue Nahrung. So lässt er an Hochhäusern in Frankfurt und Tokio gigantische, 13 Tonnen schwere Exemplare aufhängen. "Die Swatch hat eine Botschaft: Höchste Qualität, niedrigster Preis, Provokation und Spaß am Leben", erklärt der Retter der Schweizer Uhrenindustrie. Zur Feier der 100millionsten Uhr veranstaltet Hayek 1992 am Matterhorn ein bombastisches "Swatch the World Festival". Seine Landsleute verehren den inzwischen 80-jährigen Patriarchen der Swatch Group (Umsatz 2007: knapp sechs Milliarden Franken) als Nationalhelden. Ans Aufhören denkt Nicolas Hayek noch lange nicht. Gerade erst hat er ein Umwelt-Unternehmen gegründet, das in Wasser- und Solarenergie investiert. Die große Medien-Show dürfte wieder garantiert sein: im Verwaltungsrat sitzt "the sexiest man alive", Hollywood-Star George Clooney.

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3. March 2008, 09:45   #62
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02. März 1998: Natascha Kampusch wird entführt

Am 2. März 1998 verschwindet die zehnjährige Natascha Kampusch aus Wien. Eine Schulkameradin will einen Mann in einem weißen Lieferwagen gesehen haben, der sich dem Mädchen genähert habe. Anderen Zeugen ist Natascha angeblich in einem Wiener Supermarkt und in einer Straßenbahn aufgefallen. Ob Natascha entführt wurde oder nach einem Streit mit ihrer Mutter von zuhause weg gelaufen ist, bleibt ungewiss. Nataschas Leiche wird nicht gefunden. Die Hoffnung, dass ihre Tochter irgendwo im Zimmer einer Freundin sitzt, bleibt den Eltern. "Liebe Natascha, ich bitte Dich, bitte komm zurück", fleht ihr Vater weinend ins Mikrofon.

Aber Natascha kommt nicht zurück. Sie sitzt auch nicht im Zimmer einer Freundin, nicht bei Verwandten in Ungarn oder im Ferienhäuschen des Vaters, wo die Polizei bald nachschaut. Sie sitzt in einem kleinen Verlies unter einer Garage, das nur über eine Leiter zu erreichen ist. Das Versteck gehört zu einem Haus im niederösterreichschen Strasshof. Wolfgang P. hat es Natascha eingerichtet. Mehr als acht Jahre wird sie hier leben, bis zu ihrem 18. Lebensjahr: eine verlorene Kindheit und Jugend im Keller.

Anfangs hat Natascha keinen Kontakt zur Außenwelt. Dann erhält sie ein Radio, Zeitungen, die Erlaubnis, ins Badezimmer des Entführers zu gehen. Später darf sie Wolfgang P. beim Einkauf begleiten. Sie bleibt bei ihm, bis der Freiheitsdrang überwiegt. Im Sommer 2007 rettet sich Natascha mit einem Sprint in den Garten einer Nachbarin. Ihr Entführer habe ihr Leid getan, wird sie später auf die Frage sagen, warum sie nicht früher geflohen sei. Wolfgang P. kann die Polizei nicht mehr befragen. Er nimmt sich nach Nataschas Flucht das Leben.

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3. March 2008, 09:47   #63
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03. März 2003: Schauspieler Horst Buchholz gestorben

Horst Buchholz will der schnellste Cowboy der "Glorreichen Sieben" werden. Wenn er und seine sechs Kumpanen im gleichnamigen Western von John Sturges die mexikanischen Dorfbewohner vor einer Bande von Verbrechern retten, möchte er beim Revolverziehen eine besonders gute Figur abgeben. "Damals bin ich immer hinter diese kleine Kirche gegangen in dem mexikanischen Dorf", wird er sich später erinnern, "und habe geübt, weil ich so schnell werden wollte wie Steve McQueen."

Buchholz wird 1933 als Sohn einer alleinerziehenden Mutter in Berlin geboren und bei Pflegeeltern groß. Als Statist im Theater sammelt er erste Bühnenerfahrung. 1955 wird er für seine Rolle in "Himmel ohne Sterne" bei den Filmfestspielen von Cannes als bester Schauspieler ausgezeichnet. Ein Jahr später bringt ihm seine Rolle als Rebell in "Die Halbstarken" an der Seite von Karin Baal den Ruf ein, der "deutsche James Dean" zu sein. International bekannt wird Buchholz als Revolverheld Chico in "Die glorreichen Sieben", wo er neben Stars wie Yul Brunner, Charles Bronson und James Coburn spielen darf. Danach hat er in Billy Wilders Komödie "Eins, zwei, drei" noch einen großen Auftritt.

Um einen guten Film zu machen, müsse alles stimmen, sagt Buchholz 1981 im "Kölner Treff": "Das geschieht eigentlich nur alle acht Jahre. Und dazwischen muss man versuchen zu überleben". Nach Flops als Drehbuchautor und Regisseur geht es für den Schauspieler seit den achtziger Jahren vor allem ums Überleben. Buchholz arbeitet fürs Fernsehen und für B-Movies; 1981 moderiert er mit Elizabeth Teissier die "Astro-Show". Mit seiner letzten Kinorolle als KZ-Arzt in Roberto Begninis Oscar-prämiertem Film "Das Leben ist schön" darf er noch einmal eine internationale Rolle spielen. Buchholz stirbt am 3. März 2003 in Berlin.

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4. March 2008, 08:31   #64
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04. März 1948: Krankenschwester Elsa Brändström gestorben

West-Sibirien im Ersten Weltkrieg. In zwei Erdbaracken liegen 2.300 deutsche und österreichische Kriegsgefangene. Kranke und Gesunde sind so dicht nebeneinander, dass man über ihre Körper steigen muss. Leichen werden in einer Ecke aufgestapelt und erst abgeholt, wenn genügend Tote für eine Wagenladung beisammen sind. Die Fuhre zum Massengrab kommt später mit Fleisch für die Überlebenden zurück. "Wer noch Kraft hatte, aß", wird sich die Krankenschwester Elsa Brändström erinnern. "Tage vergingen, an denen es nicht einen Tropfen Wasser gab, Schwerkranke schleppten sich mit letzter Kraft hinaus, um ihren brennenden Durst im Schnee zu löschen."

Brändström wird 1888 als Tochter eines schwedischen Militärattachés geboren. Als der deutsche Kaiser Russland 1914 den Krieg erklärt, lebt sie in Sankt Petersburg. Bald schon gehen viele Damen der feinen russischen Gesellschaft in die Lazarette, um den Verwundeten die Stirn zu tupfen oder Kopfkissen aufzuschütteln. Als das Elend zu groß wird, ziehen sie wieder ab. Elsa Brändström bleibt und lässt sich im russischen Krankenpflegedienst ausbilden. Mehrmals gerät sie in Lebensgefahr, steckt sich mit Flecktyphus an. Ihr Einsatz bringt ihr den Beinamen "Engel von Sibirien" ein. Ihre Erlebnisse hält sie später in ihrem Buch "Unter Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien 1914 bis 1920" fest. Dass sich die deutschen Soldaten darin positiv von den "slawischen Elementen" abheben, ist wohl weniger ihrem Rassismus als der Situation im Gefangenenlager geschuldet.

Adolf Hitler sieht das vermutlich anders. Nach seiner Machtergreifung schickt er Brändström, die in Deutschland inzwischen eine Kuranstalt für Kriegsgeschädigte und ein Waisenhaus gegründet hat, eine Einladung zu einem Treffen. "Nein. Elsa Brändström" soll die Krankenschwester per Telegramm geantwortet haben. Mit ihrer Familie übersiedelt sie in die USA und schickt von hier nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Care-Pakete ins zerstörte Deutschland. Brändström stirbt am 4. März 1948 in Boston.

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5. March 2008, 10:34   #65
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05. März 1658: Geburt von Antoine de la Mothe Sieur de Cadillac

Im Jahr 1683 sucht ein junger Franzose sein Glück in der Neuen Welt. In Neu-Frankreich, dem heutigen Kanada, schließt sich der 25-Jährige Freibeutern an, die im Auftrag König Ludwigs XIV. Schiffe der feindlichen Engländer kapern. Schnell macht sich der junge, geschäftstüchtige Seeräuber einen Namen. Als er 1687 die 17-jährige Nichte seines Kapitäns zur Frau bekommt, unterzeichnet er die Eheurkunde mit einem eindrucksvollen Titel: "Antoine de la Mothe, Sieur de Cadillac, Sohn von Jean de la Mothe, Ratsherr im Parlament von Toulouse". Das klingt nobel, ist aber frei erfunden. Eigentlich heißt der Bräutigam Antoine Laumet, geboren am 5. März 1658 im Süden Frankreichs als Sohn einfacher Bauern. Das "Dictionary of Canadian Biography" nennt ihn später schlicht "einen der übelsten Halunken, die jemals ihren Fuß auf den Boden von Neu-Frankreich setzten".

Frankreich und Großbritannien liegen damals im Krieg um die Vorherrschaft in Nordamerika. Während die Briten mit Einwanderern die Besiedelung vorantreiben, sind die Franzosen vor allem am äußerst lukrativen Handel mit Biberfellen interessiert. Antoine de Cadillac, inzwischen zum Armeehauptmann avanciert, erkämpft sich eine Schlüsselposition im Pelzhandel und häuft mit skrupellosen Methoden in kürzester Zeit ein Vermögen an. Um sich die Kontrolle über den Handel auf dem St.-Lorenz-Strom und den Großen Seen zu sichern, überzeugt der profitgierige Offizier den Hof in Versailles von einem kühnen Plan. Am strategisch günstigsten Punkt zwischen dem Erie-See und dem St.-Claire-See, mitten im unerforschten Neu-Frankreich, gründet Cadillac 1701 ein neues Fort. Zu Ehren seines Marineministers tauft er es auf den Namen Fort Pontchartrain d'Etroit. D'Etroit bedeutet soviel wie Flussenge. Im Englischen wird daraus Detroit.

Unter Cadillacs Führung entwickelt sich Fort Pontchartrain d'Etroit zu einem miserabel verwalteten, korrupten Nest, das im Wesentlichen der Profitgier seines Kommandanten dient. Die Vernachlässigung der militärischen Aufgaben führt zu einem Indianeraufstand und schließlich der Abberufung des Sieur de Cadillac. 1710 wird er auf den Posten eines Gouverneurs in die Einöde Louisianas verbannt. Im sumpfigen Süden hält es ihn nur drei Jahre, dann kehrt er mit seinem erbeuteten Reichtum nach Frankreich zurück und erwirbt in der Nähe von Toulouse ein stattliches Anwesen. Dort stirbt Antoine de la Mothe Sieur de Cadillac 1730 im Alter von 72 Jahren. Dafür, dass der Name des falschen Adligen unvergessen bleibt, sorgt später der Automobil-Produzent Henry M. Leland. Als er in der jungen Auto-Metropole Detroit nach einem Namen für sein erstes Luxusmodell sucht, kommt ihm der Gründer der Stadt in den Sinn. Seither läuft in Detroit der Cadillac vom Band.

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7. March 2008, 14:13   #66
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06. März 1923: Jürgen von Manger wird geboren

"Also, näh, aber mal ährlich" - in der Rolle des Adolf Tegtmeier philosophiert Jürgen von Manger im breiten Ruhrpott-Slang über die Nöte und Sorgen des Kleinbürgers. Dabei ist der Schauspieler kein gebürtiger Nordrhein-Westfale. Als Sohn eines Staatsanwalts kommt er am 6. März 1923 in Koblenz zur Welt. Doch schon mit neun Jahren zieht er nach Hagen. In seiner Schulzeit spielt er als Statist an der Oper. Nach dem Abitur 1941 wird er mit 18 Jahren an die russische Front geschickt. Nach dem Zweiten Weltkrieg macht von Manger eine Schauspiel- und Gesangsausbildung und spielt an den Theatern in Hagen, Bochum und Gelsenkirchen. Daneben studiert er Rechts- und Staatswissenschaften in Köln und Münster, bleibt dann aber doch der Bühne treu.

Jürgen von Mangers Medienkarriere beginnt beim WDR. Beim Schul- und Kirchenfunk wird er als Sprecher eingesetzt. In den Aufnahmepausen erzählt von Manger Geschichten, die von Tontechnikern mitgeschnitten werden: "Das fanden sie wunderschön und belachten es kräftig", erinnert er sich später. Der damalige WDR-Unterhaltungschef ist ein Schulfreund von Mangers und vermittelt ihn an den NDR. Dort läuft die erste Geschichte 1961 als Silvestersketch. Von Manger nennt sich noch nicht Adolf Tegtmeier, sondern steht als Schwiegermuttermörder Schulte vor Gericht: "Dann hab ich sie in den Keller getragen. Dann habe ich sie gesägt. 'Was haben Sie?' Weil unser Bollerwagen, macht ich die Feststellung, dass sie noch nicht so schön drauf passte. Und ich hatte ja dann drei Fuhren, ne. Habe ich sie im Rhein-Herne-Kanal - und dann war se weg."

Von Manger hat Erfolg. Er nimmt ein Dutzend Schallplatten auf, zwei davon werden vergoldet. Seine Auftritte sind meist ausverkauft. 1966 erscheint sein Buch "Bleiben Se Mensch! - Träume, Reden und Gerede des Adolf Tegtmeier". Mit "Tegtmeiers Reisen" kommt er auch ins Fernsehen und erkundet für das ZDF die Welt aus seiner Ruhrpott-Optik. Es gibt allerdings auch Kritik: Schriftsteller Max von der Grün sagt, Tegtmeiers Dialekt sei falsch und seine Komik nur deppert. Von Manger kontert, seine Kunstfigur stelle keinen Blödmann dar: "Was er sagt, ist die moderne Eulenspiegelei." Mit 62 Jahren muss sich von Manger von der Bühne verabschieden. Ein Schlaganfall lähmt ihn halbseitig und beeinträchtigt sein Sprachzentrum. Er stirbt am 15. März 1994 mit 71 Jahren in Hern

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7. March 2008, 14:20   #67
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07. März 1908: Funknovelle zum Telegraphengesetz verkündet

1896 endet die Funkstille: Der italienische Physiker Guglielmo Marconi erhält in England das Patent für den ersten Funktelegraphen der Welt. Nach fast 60 Jahren können nun Nachrichten nicht nur per Telegraphenleitung, sondern auch drahtlos übermittelt werden. Marconi gründet in London die "Wireless Telegraph an Signal Company" und wird zum beinahe konkurrenzlosen Marktführer für Funktelegraphie. Seine Erfindung ermöglicht später die Entwicklung des Radios, des Fernsehens und des Mobilfunks.

Marconis Monopolstellung bekommt der Legende nach auch Kaiser Wilhelm II. auf einer Seereise zu spüren: "Als der Monarch sich beim Verlassen des deutschen Fahrwassers über die von Marconi-Angestellten betriebene Station Borkum ein Telegramm befördern lassen wollte, verweigerte der Marconi-Telegraphist entsprechend seiner Dienstanweisung glattweg die Annahme", erzählt der deutsche Radiopionier Hans Bredow, der 1959 verstorben ist. Das deutsche Staatsoberhaupt fordert ihm zufolge: "Diesem geradezu unglaublichen Zustand ist sofort ein Ende zu bereiten."

Ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat, ist fraglich. Welcher Telegraphist hätte ausgerechnet dem Kaiser ein Telegramm verwehrt. Zudem untersteht auch Marconis Telegraphenstation auf Borkum der deutschen Fernmeldehoheit, die seit 1871 in der Reichsverfassung festgeschrieben ist.

Klar ist allerdings, dass das Deutsche Reich die Kontrolle auch über die kabellose Übertragung haben und nicht zuletzt Geld damit verdienen will. Wer funkt, braucht Frequenzen. Und der Staat will bestimmen, wer funken darf und zu welchem Preis. Deshalb wird schließlich das Hoheitsrecht von der Kabeltelegraphie auch auf die drahtlose Nachrichtenübermittlung ausgedehnt. Am 7. März 1908 wird die Funknovelle zum Telegraphengesetz verkündet: "Elektrische Telegraphenanlagen, welche ohne metallische Leitungen Nachrichten übermitteln, dürfen nur mit Genehmigung des Reiches errichtet oder betrieben werden."

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9. March 2008, 09:26   #68
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08. März 1923: Walter Jens wird in Hamburg geboren

Walter ist ein kränkliches Kind. Schon mit zwei Jahren leidet er an schweren Asthmaanfällen. Ein Viertel seiner Schulzeit verbringt er in Sanatorien. Das Leiden ist für Walter Jens, der am 8. März 1923 in Hamburg geboren wird, auch ein Glück: So bleibt ihm der Drill in den Jugendorganisationen der Nazis ebenso erspart wie der Kriegsdienst. Stattdessen muss er als "Luftschutzausbilder" Hafenarbeitern und Prostituierten zwischen Gänsemarkt und St. Pauli die Brandbekämpfung nach Bombenangriffen beibringen und kann noch während des Krieges in Tübingen ein Studium der Altphilologie beginnen. Die Universitätsstadt wird Walter Jens' zweite Heimat. Hier lernt er als junger Dozent 1949 die Hamburgerin Inge kennen, die er zwei Jahre später heiratet. Er nimmt als Kritiker an den Treffen der Literaten der "Gruppe 47" teil, schreibt selbst Romane, Essays und Hörspiele. 1963 richtet die Universität Tübingen eigens für ihn einen Lehrstuhl für Rhetorik ein.

Die Redekunst ist für Jens keine neutrale Technik, sondern Ausdruck demokratischer Haltung. Der Bildungsbürger und gläubige Protestant Jens ist zugleich ein politischer Mensch. In der Bundesrepublik entwickelt er sich zu einer Art Universal-Intellektuellen. Seine Arbeit ist weit gespannt: Einmal übersetzt er das Neue Testament, ein anderes Mal hält er als erklärter Fußballfan eine Rede über die Geschichte des Deutschen Fußballbundes, die den Anstoß dazu gibt, dass der DFB seine Rolle im "Dritten Reich" aufarbeitet. 1983 nimmt das Ehepaar Jens an der Blockade des US-Militärstützpunkts Mutlangen teil, um gegen die Nato-Nachrüstung mit Atomwaffen zu protestieren. Die Aktion bringt Jens eine Verurteilung wegen "gemeinschaftlicher Nötigung" ein. Zehn Jahre später verstecken die Jens in ihrem Haus zwei amerikanische Deserteure, die nicht in den Irak-Krieg ziehen wollen.

Das öffentliche Bild von Walter Jens als "gutem Menschen von Tübingen" erhält 2003 einen Riss, als seine Mitgliedschaft in der NSDAP während des Studiums bekannt wird. Jens reagiert einsilbig, gibt an, er könne sich nicht mehr daran erinnern. In der Diskussion springt ihm sein ehemaliger Mitschüler Ralph Giordano bei. Der Schriftsteller erzählt, Jens habe ihm immer offen die Freundschaft erhalten, auch als Giordano als so genannter Halbjude die Schule verlassen musste. Jens hatte schon früher erklärt, er sei nie ein "aufrechter Antifaschist" gewesen, sondern nur unangepasst. Bald darauf wird es still um Walter Jens. Er leidet an einer Gefäßerkrankung, die auch das Gehirn befallen hat. "Es geht ihm ein bisschen traurig", sagt seine Frau.

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9. March 2008, 09:30   #69
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09. März 1888: Wilhelm I. stirbt in Berlin

Als am 9. März 1888 in Berlin die Kirchenglocken den Tod des Kaisers verkünden, geht eine lange Ära zu Ende: Wilhelm I. war 27 Jahre lang preußischer König und 17 Jahre zugleich Kaiser des neu gegründeten Deutschen Reichs. Sein Tod bringt Unsicherheit: Zunächst besteigt sein Sohn Friedrich III. den Thron, stirbt aber drei Monate später. Das macht den Weg frei für seinen Enkel, Wilhelm II. Politisch ändert das so genannte Drei-Kaiser-Jahr wenig, übersteht doch Kanzler Bismarck, der Architekt des jungen Staates, beide Thronwechsel.

Wilhelm I. stammt noch aus einer anderen Epoche: 1797 während der französischen Revolution geboren, nimmt er als junger Offiziersanwärter an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teil. Später erlebt er, wie die demokratischen Revolutionäre "Einigkeit und Recht und Freiheit" für die deutschen Kleinstaaten fordern und damit die Fürstenherrschaft bedrohen. Als preußischer Prinz führt er 1848/49 in Berlin und später im Rheinland die Truppen gegen die Aufständischen an. Sein gewaltsames Vorgehen bringt ihm den Schimpfnamen "Kartätschenprinz" ein. Auf dem Höhepunkt der glücklosen Revolution weicht er zeitweise nach Großbritannien aus.

Als Gouverneur des Rheinlandes gilt Wilhelm dann als eher liberal. Seine Frau Augusta von Sachsen-Weimar beeinflusst ihn in diese Richtung. Als er jedoch 1861 nach dem Tod seines älteren Bruders den preußischen Thron besteigt, bestimmt wieder der Gegensatz zur Volksvertretung seine Politik. Jahrelang regiert er ohne genehmigten Haushalt, weil das machtlose Parlament die Ausgaben für das Militär nicht genehmigen will. Wilhelm macht Otto von Bismarck zu seinem Regierungschef, und der verfolgt konsequent den Weg, für Preußen die Führung Deutschlands zu erkämpfen - durch Krieg. Eher widerwillig lässt sich Wilhelm in mehrere Kriege treiben: 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und schließlich 1871 gegen Frankreich. Alle werden gewonnen.

Was Bismarck anstrebt, ist Wilhelm zutiefst suspekt: einen deutschen Nationalstaat. Für den König war das stets der Plan der Revolutionäre und eine Gefahr für das Feudalsystem. Bismarck aber will die Einheit von oben, Nationalismus ohne Revolution. Als er Wilhelm nach dem Sieg gegen Frankreich drängt, die Kaiserkrone anzunehmen, lässt der erst alle Fürstenkollegen im Norddeutschen Bund um ihr Einverständnis fragen. Dann wird feierlich das Deutsche Reich aus der Taufe gehoben, zur Demütigung Frankreichs ausgerechnet im Schloss von Versailles. Genau hier wird das deutsche Kaiserreich 57 Jahre später auch enden: mit dem Versailler Friedensvertrag von 1919.

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11. March 2008, 11:26   #70
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10. März 1998: Wut-Rede von Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni

In der Rückrunde der Bundesligasaison 1997/98 macht Rekordmeister Bayern München seinem Spitznamen "FC Hollywood" wieder alle Ehre. Nach einer 0:1-Schlappe in Schalke, der dritten Niederlage in Folge, ist der Meistertitel so gut wie weg. Im Clubheim an der Säbener Straße geht es drunter und drüber; jeder stänkert so gut er kann. Öffentlich ätzt Stürmer Mario Basler über die Taktik von Trainer Giovanni Trapattoni: "Vielleicht bringt er im nächsten Spiel nur noch Abwehrspieler." Andere Profis ziehen nach und kühlen über die Medien ihr Mütchen an dem Coach, der sich in allen Krisen vor seine Mannschaft gestellt und gegenüber Journalisten nie den Hauch einer Kritik geäußert hat. Diese Illoyalität seiner Spieler trifft den väterlichen Trapattoni tief. Wie tief, erlebt Fußball-Deutschland am 10. März 1998 in einer denkwürdigen Pressekonferenz.

Im roten Trainingsanzug stürmt der erfolgreichste Vereinstrainer der Welt vor das Mikrofon. Mit nur mühsam unterdrücktem Zorn macht "Trap", sonst die Contenance in Person, vom ersten Satz an die Tonlage klar: "Es gibt im Moment in diese Mannschaft, oh, einige Spieler vergessen ihren Profi was sie sind." Vergessen sind die Zettel in der Hand, auf denen sich der meist abenteuerlich radebrechende Trainer wichtige Gedanken in Deutsch notiert hat. Mit tiefrotem Gesicht und vor Wut blitzenden Augen nimmt Trapattoni zuerst die gesamte Mannschaft auseinander. Dann knöpft er sich, mit fuchtelnden Armen und überschlagender Stimme, die Spieler einzeln vor.

So richtig in Schwung gekommen, gelingen dem Wüterich prägnante Formulierungen wie "Spieler, die waren wie Flasche leer" oder "Struuunz! Was erlaube Struunz?" die bis heute unseren Alltagsjargon bereichern. Nach einer knapp zehnminütigen Suada donnert Trapattoni die Faust auf den Tisch: "Ich bin müde verteidige immer diese Spieler!" Dann springt er auf, dekretiert "Ich habe fertig!" und rauscht hinaus. Am folgenden Tag: Trapattoni auf allen Kanälen. Selbst die "Tagesschau" berichtet groß über den urgewaltigen Wutausbruch des Bayern-Trainers. Kein Ereignis ist 1998 häufiger auf dem Bildschirm zu sehen als Trapattonis Zusammenfalten seiner Mannschaft. Der Maestro selbst jedoch fühlt sich lange Zeit missverstanden und verhöhnt. Zu sehr wurmt ihn, dass seine klangvollen Beschimpfungen in der Öffentlichkeit als running gag veralbert werden. Zum Saisonende bricht der erste italienische Trainer, der in der Bundesliga gearbeitet hat, sein Gastspiel in München vorzeitig ab und übernimmt den AC Florenz. Deutscher Meister wird der 1. FC Kaiserslautern.

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11. March 2008, 11:32   #71
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11. März 1888: Friedrich Wilhelm Raiffeisen stirbt in Heddesdorf

Im Winter 1846/47 herrscht in weiten Teilen Deutschlands eine Hungersnot - bedingt durch Kartoffelfäule und zwei Getreidemissernten. Wegen ihrer kargen Böden besonders betroffen sind Gebirgsgegenden wie der Westerwald. Der Bürgermeister der kleinen Gemeinde Weyerbusch, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, sorgt sich um die hungernden Bauernfamilien. Er beantragt bei der preußischen Regierung Mehl aus staatlichen Beständen für die Armen. Diese ist dazu jedoch nur bereit, wenn das Mehl verkauft wird. Der evangelisch-religiöse Raiffeisen empfindet diese Anweisung als ungerecht. Er schlägt vor, eine Armenkommission zu gründen, die das Mehl auf Vorschuss verteilt. Daraufhin entsteht der "Verein zur Selbstbeschaffung von Brod und Früchten". Es geht nicht um die Verteilung von Almosen, sondern um Hilfe zur Selbsthilfe. Raiffeisens Prinzip lautet: "Einer für alle, alle für einen."

Geboren wird Friedrich Wilhelm Raiffeisen 30. März 1818 in Hamm im Westerwald. Er ist das siebte von neun Kindern des Landwirts und Bürgermeisters Gottfried Friedrich Raiffeisen. Der alkoholkranke Vater veruntreut Geld aus der Armenkasse und muss daraufhin den Dienst quittieren. Weil die Familie nun mittellos ist, kann Friedrich Wilhelm keine höhere Schule besuchen und wird stattdessen von seinem Patenonkel, einem Pfarrer, unterrichtet. Zunächst will Raiffeisen die Offizierslaufbahn einschlagen, muss den Militärdienst aber aufgrund eines Augenleidens quittieren. Er wechselt zur zivilen Verwaltung und wird 1845 Bürgermeister in Weyerbusch.

1848 wird Raiffeisen Bürgermeister der größeren Gemeinde Flammersfeld. Dort gründet er den "Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte". Dieser Verein hilft den Bauern, Vieh, Arbeitsgeräte und Maschinen zu besorgen. Die Reichen haften mit ihrem Vermögen, die Armen zahlen den Kredit zu einem fairen Zinssatz zurück, wenn sie zu Geld gekommen sind. Raiffeisen initiiert auch den Bau von Straßen. Dadurch können die Bauern ihre Produkte ohne Zwischenhandel selbst verkaufen. Die nächste Station des Sozialreformers ist Heddesdorf, heute Neuwied. Dort gründet er als Bürgermeister 1864 den "Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein". Damit entsteht die erste ländliche Genossenschaft, die Kredite vergibt und die Zinsgewinne in soziale Projekte steckt. Nach seiner Pensionierung beschreibt Raiffeisen 1866 seine Erfahrungen im Buch "Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Not der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter". Selbst als er kaum noch sehen kann, bereist er unermüdlich das Land und verbreitet seine Idee: Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung. Als Raiffeisen am 11. März 1888 in Heddesdorf stirbt, arbeiten bereits rund 3.000 Genossenschaften in seinem Sinn. Mittlerweile haben sich aus den Notgemeinschaften weltweit mehr als 900.000 Unternehmen im Bankensektor, im Gewerbe und in der Agrarwirtschaft entwickelt.

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12. March 2008, 09:07   #72
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12. März 1893: Reichsgesetz führt MEZ in Deutschland ein

Grace Kelly macht sich Sorgen. Soeben hat ihr Gary Cooper alias Will Kane verkündet, dass er sich als Marshall mit einem Banditen duellieren will, der mit dem Zwölfuhrzug kommen soll und sich an ihm rächen will. "Du verlangst von mir zu warten, bis sich herausstellt, ob ich deine Frau bin oder deine Witwe?", sagt Kelly in Fred Zinnemanns Westernklassiker "High Noon" (1952) erbost. "Mir ist die Wartezeit zu lang. Entweder kommst du mit mir oder ich werde mit dem Mittagszug weiterfahren!"

Aber wann ist eigentlich Mittag? Und wann kommt der Zwölfuhrzug vorbei? Weltweit richtet sich die Uhrzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein nach dem Sonnenstand - und der ist an jedem Ort des Globus verschieden. Als der Wilde Westen mit der Eisenbahn erschlossen wird, zeigen die amerikanischen Uhren 71 verschiedene Zeiten an. In der alten Welt ist das nicht anders. Da die verschiedenen Eisenbahngesellschaften die Ortszeit ihres Unternehmens quer über den Kontinent mitnehmen, kommt es vor, dass am selben Bahnhof ein Zug nach Prager Zeit abfährt, der andere nach Pariser Zeit und der nächste nach dem Uhrenstand in Karlsruhe. Kluge Weltenbummler haben deshalb immer gleich mehrere, unterschiedlich gestellte Reisewecker im Gepäck.

In Amerika reagiert man auf den Missstand am schnellsten. 1873 beschließt die US-Regierung, das Land in vier Zeitzonen zu unterteilen. Grundlage ist die Idee, die Uhren nicht mehr nach dem Sonnenstand zu stellen, sondern im Bereich zwischen zwei geographischen Längen mit einem Abstand von 15 Grad jeweils gleich ticken zu lassen. Am 12. März 1893 beschließt auch der deutsche Reichstag, sich der Mitteleuropäischen Zeitzone (MEZ) anzuschließen, die von Spanien bis Polen reicht. Seitdem sind Bahnreisende hierzulande nur noch irritiert, wenn der Zug Verspätung hat.

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13. March 2008, 09:03   #73
Jules
 
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13. März 1808: Christian VII. stirbt in Rendsburg

Dänemark ist Ende des 18. Jahrhunderts eine aufstrebende Macht: Fusioniert mit Norwegen, reicht das Land vom Nordkap bis an die Elbe. Aber die Minister haben ein Problem: Ihr König ist nicht normal. Das zeichnet sich schon ab, als der 17-jährige Christian 1766 den Thron in Kopenhagen besteigt. Der junge Mann hat häufig hysterische Wutanfälle. Obwohl er schon mit seiner erst 15-jährigen Cousine Caroline Mathilde verheiratet wurde, zieht er mit der "Stiefeletten-Katharina", einer bekannten Kopenhagener Hure, durch die Bordelle der Stadt, um dort das Inventar zu zerschlagen.

1768 schicken die Hofregenten den peinlichen König auf eine mehrmonatige Europareise. Als Reisearzt wird ein junger Doktor aus Hamburg engagiert: Johann Friedrich Struensee. Der Aufklärer und Frauenheld gewinnt das Vertrauen Christians, bald aber auch die Liebe der einsamen Königin. Er bleibt nach der Reise am Hof und macht eine atemberaubende Karriere: Erst Leibarzt, dann Erzieher des Thronfolgers Friedrich, schließlich Graf und Geheimer Kabinettsminister. Ab 1770 regiert er mit der Unterschriftsberechtigung des Königs faktisch allein das Land.

Struensee verbietet die Folter, hebt die Pressezensur auf, verbessert Schulen, Krankenhäuser und Armenfürsorge. Doch er regiert als selbstherrlicher Diktator, der ein Volk vom Schreibtisch aus regiert, das er verachtet. Struensee spricht kein Wort Dänisch. Durch seine Verwaltungsreform werden viele Menschen arbeitslos.

Als Caroline Mathilde im Sommer 1771 eine Tochter bekommt, wird die im Volk nur "Prinzessin Struensee" genannt. Dass der Leibarzt den geistig immer mehr umnachteten König betrügt, wird ihm zum Verhängnis. 1772 schlägt die Hofaristokratie zurück: Nach einem Maskenball werden Struensee und die Königin verhaftet. Wegen Majestätsverbrechen verurteilt, wird Struensee öffentlich hingerichtet, die Königin nach Celle verbannt.

Christian spielt in dieser Zeit gern mit einem schwarzen Sklaven Hoppe-Hoppe-Reiter im Palastgarten. 1784 übernimmt sein erst 16-jähriger Sohn Friedrich faktisch die Macht. Er führt die Reformen seines Erziehers Struensee weiter. Christian ist nur noch pro forma König. Am 13. März 1808 besucht er die Kommandantur Rendsburg. Dänemark führt Krieg gegen Schweden. An diesem Tag laufen verbündete spanische Schiffe mit Hilfsgütern ein. Im Wahn hält der König sie für die feindliche Flotte. Vor Schreck bekommt er einen Herzinfarkt. Christian VII. stirbt mit 59 Jahren.

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14. March 2008, 08:29   #74
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14. März 1883: Karl Marx stirbt in London

Sein Leben endet nicht im Triumph: Nur elf Getreue geben dem am 14. März 1883 verstorbenen Karl Marx auf dem Londoner Friedhof Highgate das letzte Geleit. Seit der gescheiterten Revolution von 1848 hat der Philosoph mit seiner Familie im englischen Exil gelebt - geplagt von Geldnot und Krankheit. Vier seiner sechs Kinder starben vor ihm. Sein Hauptwerk "Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie" bleibt unvollendet. Dennoch prophezeit sein Freund Friedrich Engels in der Grabrede: "Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk." Engels behält Recht - zumindest was den kommunistischen Ostblock betrifft. Mit dem Fall der Mauer verliert der Marxismus 1989 allerdings seine stärkste Basis. Doch Marx' dialektisches Denken fasziniert noch immer: Sogar Banker und Börsianer studieren ihn als Experten des Kapitalismus. Globalisierungsgegner und Naturschützer schätzen ihn als schonungslosen Analytiker der kapitalistischen Gesellschaft.

Marx' zentrale Aussage über den modernen Kapitalismus fasst Michael Krätke, Professor für Politikwissenschaften und Ökonomie in Amsterdam, so zusammen: Einerseits handelt es sich um die bisher produktivste und fortschrittlichste Produktionsweise in der Geschichte, andererseits ist sie jedoch selbstdestruktiv und sorgt für Entfremdung, Ausbeutung und Elend. Der Kapitalismus zerstört demnach einzelne Menschen, gesellschaftliche Verhältnisse und die Natur. "Ein rationeller Umgang mit der Natur wird erst jenseits des Kapitalismus möglich sein, in einer anderen Gesellschaftsform und Produktionsweise", erklärt Professor Krätke. Diese andere Gesellschaftsform, die so genannte klassenlose Gesellschaft, beschwört Marx 1848 im "Kommunistischen Manifest": "Die Kommunisten erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung."

Schon in seiner Doktorarbeit setzt Marx Perspektiven für die Zukunft. Die Philosophie soll endlich nach Verwirklichung streben - so die Devise des am 5. Mai 1818 in Trier geborenen Rechtsanwaltsohnes: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Marx sieht die Geschichte als eine gesetzmäßige Aufeinanderfolge von Klassenkämpfen. Er selbst ist aber kein Politaktivist. "Er war auch kein Agitator", sagt Professorin Beatrix Bouvier, Leiterin des Karl-Marx-Hauses in Trier. "Er war auch kein Volkstribun und sicherlich nicht der berühmteste Redner. Sein Instrument war das Schreiben." Allerdings habe Mühe er gehabt, seine Texte abzuschließen. Als redlicher Forscher habe er immer wieder alles ergründet: "Wenn etwas Neues eingetreten war, hat er neu angefangen." Marx' Werk ist ein Torso geblieben. 60 Forscher aus neun Ländern arbeiten heute an der Herausgabe der MEGA, der neuen 122-bändigen Marx-Engels-Gesamtausgabe. Ziel ist die Entschlüsselung des ursprünglichen Wortlauts der Marx-Texte. Denn Engels, der "Das Kapital" vollendet, hat postum viele Änderungen vorgenommen und neue Zusammenhänge hergestellt. Zudem haben weltweit Propaganda-Abteilungen der sozialistischen und kommunistischen Parteien aus dem Analytiker des Kapitalismus einen Dogmatiker gemacht. Das ging nur über grobe Vereinfachungen und Verfälschungen.

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16. March 2008, 13:08   #75
Jules
 
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15. März 2003: Hu Jintao wird chinesischer Staatspräsident

Je größer ein Baum, desto leichter bricht ihn der Sturm. Wer trotzdem über die anderen hinauswachsen will, der biege sich geschmeidig im Winde. Hu Jintao hat diese Weisheit seines Volkes ein Leben lang perfekt befolgt. Als "Mann ohne Eigenschaften" ist dem gelernten Wasserbauingenieur und jüngsten Provinzparteichef in der Geschichte der Volksrepublik China eine steile Karriere bis an die Staatsspitze gelungen. Mao-Nachfolger Deng Xiaoping höchstpersönlich protegiert den 1942 geborenen Sohn eines Buchhalters. Seinen Härtetest besteht der fortschrittlich denkende, aber unauffällig agierende Hu, als er 1989 in Tibet die Proteste gegen die chinesische Fremdherrschaft energisch niederschlagen lässt. Daraufhin beruft ihn Parteipatriarch Deng nach Peking in den innersten Zirkel der Macht.

Mit der Übernahme des Parteivorsitzes vom alternden Deng-Nachfolger Jiang Zemin vollzieht sich im November 2002 der erste Schritt des geplanten Machtwechsels. Im Westen fällt angenehm auf, dass der mit 60 Jahren vergleichsweise junge, durchaus charmant wirkende Hu den Personenkult seines Vorgängers ablehnt. Hoffnungen auf einen demokratischeren Kurs werden aber enttäuscht. Auch als Hu am 15. März 2003 zum Staatspräsidenten gewählt wird, bleibt er dem Vermächtnis Deng Xiaopings treu: Wirtschaftliche Öffnung bei gleichzeitiger totaler Kontrolle von Politik und Gesellschaft. Einen Monat nach seiner Wahl besteht Hu mit einem für chinesische Verhältnisse ungewöhnlich offen geführten Kampf gegen die Lungenkrankheit SARS seine erste Bewährungsprobe. An den zentralen Schalthebel der Macht gelangt der Parteivorsitzende und Staatspräsident, als ihm sein Vorgänger Jiang den Vorsitz in der Zentralen Militärkommission überlässt.

Erst mit diesem im September 2004 vollzogenen Schritt hält Hu Jintao die gesamte Kontrolle über die Atommacht China in Händen. Um aus Jiang Zemins großen Schatten herauszutreten, absolviert der als Mensch im Westen nahezu unbekannte Hu 31 Staatsbesuche in zwei Jahren. Wärend seines Deutschlandaufenthalts im November 2005 stattet er auch Nordrhein-Westfalen einen Besuch ab. Eine Bilanz seiner ersten Amtsperiode könne sich durchaus sehen lassen, urteilt Heike Holbig, China-Expertin des Asieninstituts Hamburg. So habe Hu erfolgreich die wuchernde Korruption bekämpft, die Lebensumstände der unzähligen armen Wanderarbeiter verbessert und eine Wirtschaftsförderung für die abgelegenen Gebiete des Riesenreichs in Gang gebracht. Menschenrechtsverletzungen seien allerdings weiter an der Tagesordnung. Nach wie vor sitzen Millionen Chinesen in Arbeitslagern; nach wie vor werden jährlich schätzungsweise rund 8.000 Menschen hingerichtet.

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