Skats

Datenschutzerklärung Letzten 7 Tage (Beiträge) Stichworte Fussball Tippspiel Sakniff Impressum
Zurück   Skats > Interessant & Kontrovers > Das Leben
Registrieren Hilfe Benutzerliste Kalender


 
 
14. February 2007, 08:29   #76
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
14. Februar 1942: Die Briten befehlen die Bombardierung deutsche Städte

"Nun haben wir schon ein Jahr Krieg. Unsere Wehrmacht hat zu Lande, zu Wasser und in der Luft große Erfolge verzeichnet." So lautet 1940 der Diktat-Text in einem deutschen Schulheft. "Wir fliegen gegen England und mit uns fliegt der Tod. England bekommt, was es verdient. Der Sieg wird unser sein." Polen überrollt, Luxemburg, Holland, Belgien und Frankreich im Blitzkrieg genommen - aus deutscher Sicht scheint die Lage bestens. Im November 1940 bombardiert Görings Luftwaffe die englische Industriestadt Coventry. Die gesamte Innenstadt wird zerstört. Von da an bedeutet "coventrieren" im deutschen Propaganda-Jargon das Einäschern gegnerischer Städte.

Nach der Erfahrung von Coventry ändern die Briten das Kriegsziel ihrer Luftwaffe. Statt wie bisher vor allem kriegswichtige Einrichtungen zu bombardieren, sollen nun auch deutsche Innenstädte getroffen werden. Am 14. Februar 1942 ergeht an die Royal Air Force die "Area Bombing Directive", die Anweisung zum Flächenbombardement. Sir Charles Portal, der britische Luftwaffen-Stabschef präzisiert: "Es ist klar, dass die Zielpunkte Siedlungsgebiete sein sollen und beispielsweise nicht Werften oder Luftfahrtindustrien. Das muss ganz deutlich gemacht werden." Die Taktik heißt "Moral Bombing". Premierminister Winston Churchill hofft, damit "die Moral der deutschen Zivilbevölkerung insgesamt zu zerstören und die der Industriearbeiter im Besonderen." Mit der Ausführung wird der Chef der Bomber-Flotte, Arthur Harris, betraut. Er studiert den deutschen Luftangriff auf Coventry und stellt fest: Zuerst haben Sprengbomben Dächer abgedeckt und Wasserleitungen zerstört. Der so produzierte Schutt verstopfte die Straßen und hinderte die Feuerwehr am Durchkommen. Anschließend entzündeten Brandbomben den Trümmerhaufen.

Der erste britische Bombenangriff nach dieser Methode trifft im März 1942 Lübeck. Rund 62 Prozent aller Gebäude im Zielgebiet werden zerstört oder beschädigt. Die Heimatstadt von Thomas Mann liegt in Trümmern. Der Schriftsteller meldet sich per "Feindsender" aus dem Exil: "Ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss." Nun folgt Angriff auf Angriff. Im Juni 1942 wird der erste 1.000-Bomber-Angriff gegen Köln geflogen. Solche Angriffe folgen auf Essen, Bremen, München, Krefeld, Hannover, Stuttgart - und immer wieder Orte im Ruhrgebiet. Bevor die Brandbomben abgeworfen werden, markieren so genannte Pfadfinder-Schwadronen mit farbigen Leuchtbomben die brandempfindlichen Zonen. Christbäume setzen, nennen die Deutschen dieses Vorgehen. Insgesamt fallen auf die deutschen Städten 1,3 Millionen Tonnen Bomben, davon fast ein Drittel in den letzten Kriegsmonaten. Etwa eine halbe Million Menschen kommen dadurch ums Leben. Ob es sich bei den alliierten Angriffen um sinnlosen Bombenterror oder militärisch notwendige Schläge gegen Nazi-Deutschland gehandelt hat, ist bis heute umstritten.

Klick
 
15. February 2007, 09:02   #77
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
15. Februar 1987: "Rudis Tagesshow" löst im Iran Proteste aus

Im Iran gehen die Massen auf die Straße. Zwei deutsche Diplomaten werden des Landes verwiesen, das Goethe-Institut muss schließen. Der Flugverkehr nach Frankfurt wird eingestellt. Öffentlich wirft Irans Premierminister dem deutschen Fernsehen Beleidigung des "Heiligen" und damit aller Iraner vor. Grund ist ein schlüpfriger Witz über den geistlichen Führer Ayatollah Khomeini in der Nachrichten-Persiflage "Rudis Tagesshow". Deren "Nachrichtensprecher" Rudi Carrell erhält Morddrohungen und versteht die Welt nicht mehr. "1987 wurde ich, der in der Tagesshow nur versuchte, witzige Nachrichten zu bringen, selbst zur Nachricht", wird der holländische Entertainer später sagen. "Ein in unseren Augen harmloser Gag von fünf Sekunden erschütterte die islamische Welt."

Stein des Anstoßes ist ein kurzer Film, der Khomeini zunächst vor einer jubelnden Menschenmenge zeigt. Im nächsten Bild sind Hände zu sehen, die in Damenunterwäsche wühlen. Danach erweckt der Film den Anschein, die Dessous würden dem schiitischen Geistlichen zu Füßen geworfen. Das höchste spirituelle Oberhaupt des Iran wird auf eine Stufe mit Pop-Stars gestellt, dem Groupies ihre Slips anbieten. Der Sendetermin am 15. Februar 1987 fällt in die Woche des achten Jahrestages der Islamischen Revolution, bei der das Regime des Schahs gestürzt und gegen eine religiös legitimierte Republik ausgetauscht worden war. Dass diese beiden Termine zusammenfielen, mag die Reaktionen noch verschärft haben. Carrell sah eine andere Ursache: "Die iranische Regierung wollte unbedingt Waffen haben von der deutschen Regierung. Und sie suchten irgendein Druckmittel. Und da haben sie irgendwas gefunden. Etwas Absurdes, wenn man heute darüber nachdenkt."

Damals sorgt die Szene aus "Rudis Tagesshow" auch im bundesdeutschen Bundestag für hitzige Debatten. Der grüne Politiker Otto Schily etwa konnte nicht verstehen, "inwiefern eigentlich etwas Damenunterwäsche nun so etwas Weltbewegendes sein soll". Im Iran würden die Menschenrechte mit Füßen getreten. "Aber wenn ein so genannter Religionsführer mit Damenunterwäsche in Verbindung gebracht wird, dann soll die Welt untergehen." Der WDR als produzierender Sender entschuldigte sich trotzdem beim iranischen Volk, ebenso wie Carrell. "Meine Aufgabe ist nicht, Leute zu ärgern", sagte er zudem im Interview. "Ich werde dafür bezahlt, dass Menschen Spaß haben. Also bedauere ich es einfach, dass hier eine Gruppe von Menschen beleidigt ist." Für den Moment waren die Wogen geglättet.

Klick
 
16. February 2007, 08:27   #78
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
16. Februar 1822: Sir Francis Galton wird geboren

1892 erscheint in England ein Buch mit dem unscheinbaren Titel "Fingerprints". Es wird zu einem der größten Werke in der Geschichte der Kriminologie. Der Wissenschaftler Francis Galton weist darin nach, dass jeder Mensch allein aufgrund der Schleifen, Wirbel, Bögen und Kurven seines Fingerabdrucks zu identifizieren ist. Zur Jahrhundertwende verstreuen die Ermittler von Scottland Yard als erste Rußpulver am Tatort, um Fingerabdrücke aufzuspüren. Nach 1901 erobert seine Methode auch die Polizeistationen der Provinz. Dabei will Galton seine Erkenntnisse gar nicht als empirische Unterstützung von kriminalistischem Spürsinn verstanden wissen. Ihm geht es einzig und allein darum, Charakteristika für den Hang zum Verbrechen zu entdecken. Fingerabdrücke sind für ihn sichtbare Zeichen der Vererbung.

Galton wird am 16. Februar 1822 in Birmingham geboren. Nach dem Tod seines Vaters wird er finanziell unabhängig. Fasziniert vom Ruhm seines Cousins Charles Darwin, beschließt er, das Geld in Forschungsreisen zu stecken. In der Folge bereist Galton den Balkan, Ägypten und den Sudan. 1850 leitet er eine Expedition in die unerforschten Gebiete des Südwestens von Afrika. Galton ist wie besessen von allen Formen der Wissenschaft - und Pseudowissenschaft. Statistisch versucht er, den Erfolg des Betens zu messen. Er entwickelt erste Wetterkarten, treibt die Wahrscheinlichkeitsrechnung voran und entwickelt eine nach ihm benannte Hundepfeife. Zusammen mit Wilhelm Wundt gilt er als Begründer der experimentellen Psychologie. Und in Afrika untersucht er mit Hilfe eines Distanz haltenden Sextanten den Fettsteiß von "Hottentottenfrauen".

Galtons größte Leidenschaft gilt der Verbesserung der Menschheit durch "Rassenhygiene". Die Zucht eines vollkommenen Menschengeschlechts durch Selektion der Besten wird zu seinem Ideal. Ihm gilt auch die nie publizierte Roman-Utopie "Kantsaywehre" ("Ich weiß nicht wo"). 1883 führt Galton den Begriff der Eugenik als "gute Zucht" in den englischen Wissenschaftsbetrieb ein. Auch seine Untersuchungen an Zwillingen und der Größe des Gehirns sollen belegen, dass die Erbanlagen bei der Intelligenz und Entwicklung des Individuums alles und die äußeren Umstände nichts bedeuten. Was sein großer Cousin Darwin für die Tierwelt belegt hat, versucht Galton auch für die menschliche Gesellschaft fruchtbar zu machen. Für seine wissenschaftlichen Verdienste wird er 1909 von der britischen Krone geadelt. Galton stirbt 1911 in Haslemere (Grafschaft Surrey).

Klick
 
19. February 2007, 21:20   #79
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
17. Februar 1987: Das erste "Tiefkühlbaby" wird in Deutschland geboren

Nicht fortpflanzungsfähig - das muss keine endgültige Diagnose sein. Eine Möglichkeit, sich den Kinderwunsch doch noch zu erfüllen, ist die Befruchtung im Reagenzglas. Mitte der 1980er Jahre gibt es rund 20 Kliniken in der Bundesrepublik, die dieses Verfahren anwenden. Die bekannteste ist die Universitäts-Frauenklinik in Erlangen, wo 1982 das erste deutsche Retortenbaby geboren wird.

Im Frühjahr 1986 will ein junges Paar aus Aschaffenburg die künstliche Befruchtung ausprobieren. Die Eileiter der Frau sind verklebt. Deshalb kann sie nicht auf natürlichem Weg schwanger werden. Zuerst muss die Patientin eine Hormonbehandlung über sich ergehen lassen. Auf diese Weise sollen sich mehrere Eizellen bilden. Die Behandlung ist erfolgreich: Zwei der so entstandenen Eizellen werden befruchtet und wieder in die Gebärmutter eingepflanzt. Vier weitere Eizellen werden eingefroren - in flüssigem Stickstoff bei minus 190 Grad Celsius. Kryo-Konservierung nennt sich diese Methode. Der behandelnde Arzt Jan van Uem und seine Kollegen betreten damit medizinisches Neuland. Denn bis zu diesem Zeitpunkt sind hauptsächlich Embryonen eingefroren worden, also bereits befruchtete Eizellen, die sich ein- oder zweimal geteilt haben. Diese Praxis ist aber umstritten, da sich aus dem Zellhaufen ein Mensch entwickeln kann. Das Einfrieren nicht befruchteter Eizellen hingegen ist aus Sicht von Reproduktionsmediziner van Uem kein ethisches Problem.
Unbefruchtete Eizellen werden auf Gendefekte untersucht

Als der Versuch mit den frischen Eizellen misslingt und die Patientin nicht schwanger wird, wagt sie mit den eingefrorenen Zellen einen neuen Anlauf. Nach ein paar Tagen ist klar: Eine aufgetaute und befruchtete Eizelle hat sich eingenistet. Die Schwangerschaft verläuft acht Monate problemlos. Als in der 38. Woche die Herztöne nicht mehr optimal sind, handeln die Ärzte: Am 17. Februar 1987 kommt das erste deutsche "Tiefkühl-Baby" per Kaiserschnitt zur Welt. Christine wiegt 2.100 Gramm. "Das Mädchen war vollkommen gesund", sagt Dr. van Uem rückblickend. Heute gehört die Kryo-Konservierung unbefruchteter Eizellen zur Standardmethode. Embryonen dürfen hingegen - seit das Embryonenschutzgesetz 1991 in Kraft getreten ist - nur noch in Ausnahmefällen eingefroren werden.

2005 sind in Deutschland rund 36.000 künstliche Befruchtungen durchgeführt worden. Etwa jeder sechste Versuch verläuft erfolgreich. Die Manipulation des Erbguts ist dabei genauso verboten wie die Selektion von Embryonen. Um das Risiko für genetische Krankheiten zur verringern, können jedoch die Eizellen vor der Befruchtung untersucht werden. Entdecken die Mediziner eine Abweichung, so wird die zugehörige Eizelle nicht befruchtet. Wie weit Analyse und Auswahl gehen dürfen, ist umstritten. In anderen europäischen Ländern ist die genetische Untersuchung des Embryos vor der Einpflanzung erlaubt. In Deutschland wird sie allerdings nicht durchgeführt. Bis heute prägen zwei Fragen die Diskussion. Erstens: Welche Analysen dürfen Ärzte an Eizelle, Spermium und Embryo durchführen? Und zweitens: Welchen Schutz genießt der Embryo?

Klick
 
19. February 2007, 21:23   #80
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
18. Februar 1932: Optik-Unternehmer Josef Rodenstock gestorben

Da hatte der alte Kommerzienrat seine Nachkommen aber gründlich unterschätzt. Fünf Jahre vor seinem Tod am 18. Februar 1932 schreibt Josef Rodenstock als steinreicher Ruheständler in seinem Alterssitz bei Kufstein: "Die schreckliche Reue, meine sauer erworbenen Realwerte den Kindern überlassen zu haben, bleibt unbeschreiblich." Doch die Söhne und Enkel strafen ihren Gründer-Vater Lügen. Unter der Führung von Alexander (1905-53), Rolf (1953-90) und Randolf (1990-2004) entwickelt sich Rodenstocks "Optisches Institut" zu einem global operierenden Unternehmen mit 4.300 Mitarbeitern.

Der so hart über seine Erben urteilende Pionier musste selbst schon in jungen Jahren zum Familienunterhalt beitragen. Josef Rodenstock wurde 1846 im thüringischen Eichsfeld geboren. Mit 14 Jahren wird Josef von seinem Vater mit anderthalb Talern in der Tasche als Hausierer auf die Reise geschickt. Kreuz und quer zieht der wissbegierige Junge, der viel lieber gelesen und studiert hätte, durch die Lande, verkauft Kurzwaren, selbst gefertigte Barometer und - hin und wieder - auch Brillen. Josef beweist dabei nicht nur großes Kaufmanns-Talent, auch sein persönliches Interesse für die Naturwissenschaften, insbesondere die Optik, setzt sich bald in klingende Münze um. 1877 hat er 30.000 Mark gespart, mit denen er in Würzburg seine erste Werkstatt für Brillen und physikalische Messinstrumente eröffnet.

In kürzester Zeit gelingt es Rodenstock, seinen Namen über die Grenzen Deutschlands hinaus als Marke für Präzisionsinstrumente zu etablieren. Zum Grundstein seines Erfolgs wird die patentierte Entwicklung neuartiger, reflektionsarmer "Diaphragma-Brillengläser" und eines Anpassungsgeräts für Brillen. 1883 verlegt Rodenstock den Firmensitz nach München, wo sich bis heute die Unternehmenszentrale befindet. Mit 73 Jahren und einem Vermögen von 3,5 Millionen Goldmark zieht sich der ebenso geachtete wie gefürchtete Patriarch auf sein Kufsteiner Landgut zurück und übergibt - Böses ahnend - die Firmenleitung seinem Sohn Alexander. Über 80 Jahre bleibt das florierende Unternehmen im Familienbesitz. Im Jahr 2003 tritt Randolf Rodenstock von der Geschäftsführung zurück und verkauft seine Anteile nach und nach an einen privaten Investor.

Klick
 
19. February 2007, 21:26   #81
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
19. Februar 1957: Karnevalsfreie Zone im Rheinland

Februar 1957: Die meisten Deutschen sind fleißig mit dem Wiederaufbau und dem Wirtschaftswunder beschäftigt. Erholung und Ablenkung finden die Menschen im Kino oder - im Rheinland zu dieser Jahreszeit: Im Karneval. Doch nicht alle begeistern sich für Schlager oder Karnevalshits. Vor allem junge Leute haben ganz andere Vorlieben: Bill Haley und andere Rock'n Roller sind die musikalischen Vorbilder für viele Jugendliche. James Dean ist ihr Idol. So wie er im Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" rebellieren viele Heranwachsende gegen ihre Eltern. In der rheinischen Kleinstadt Gibbenich wechseln die Bewohner lieber die Straßenseite, wenn ihnen die ortsansässige Halbstarken-Bande entgegenkommt.

Der Boss der Gibbenicher Bande heißt Horst Mäker. Inspiriert von James Dean legt sich der 19-Jährige häufig mit seinem Vater an - dem Präsidenten des örtlichen Karnevalsvereins. "Es gab da dieses unglaubliche Spannungsverhältnis zwischen Vater und Sohn Mäker, das hat hier jeder gewusst", erinnert sich der heutige Stadt-Archivar Cordt Westermann. "An Karneval ist die Situation dann irgendwie eskaliert." Den Halbstarken macht es nämlich besonderen Spaß, die Narren zu provozieren: Sie knattern mit ihren Mopeds stundenlang um die Stadthalle, in der gerade eine Sitzung läuft, oder reißen die Karnevals-Dekoration von Geschäften ab. Die Gibbenicher Karnevalisten wenden sich in ihrer Not an den Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Doch Hubert Biernat sieht noch keinen Handlungsbedarf: "Es gab immer junge Menschen dieses Alters, die sich aufgelehnt und lustige Streiche gemacht haben."

Die Gibbenicher Narren sind empört und greifen zur Selbsthilfe. Am 19. Februar 1957, dem Tag des großen Karnevalsumzugs, ist ganz Gibbenich auf den Beinen - und auch Horst Mäker und seine Halbstarken. Sie haben es auf den großen Mottowagen abgesehen. Mit faulen Eiern wollen sie Wagen und Narren bewerfen. Doch als das von vier Pferden gezogene Gespann auftaucht, lassen die Halbstarken vor Empörung die Wurfgeschosse fallen: Auf dem Wagen ist ein riesiges Porträt von James Dean mit der Aufschrift "Denn er wusste nicht, wie man fährt". Das Idol, das ein Jahr zuvor bei einem Autounfall gestorben war, so zu verhöhnen - das ist zu viel für die Halbstarken. Sie zerlegen den Wagen in seine Einzelteile und randalieren in der Stadt, bis die Polizei die Situation unter Kontrolle bringt. Um weitere Auseinandersetzungen zwischen Halbstarken und Karnevalisten zu vermeiden, lässt NRW-Innenminister Hubert Biernat in einem Umkreis von zehn Kilometern alle Karnevalsveranstaltungen verbieten und errichtet somit die erste karnevalsfreie Zone im Rheinland. Diese ist allerdings auf keiner Karte zu finden, den Gibbenich wird umbenannt in Gibt-es-nicht!

Klick
 
20. February 2007, 08:21   #82
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
20. Februar 1922: Der Herr der Röhren - Reinhard Mannesmann - stirbt in Remscheid

Als die Dampfmaschinen im 19. Jahrhundert immer höheren Druck produzieren, steigt die Zahl der Unfälle. Eine Ursache dafür sind die bis dahin verwendeten Rohre: Die rund gebogenen Bleche mit einer Schweißnaht halten der enormen Belastung der industriellen Produktion nicht stand. Deshalb wird nach einer Methode zur Herstellung eines nahtlosen Rohres gesucht.

Auch der junge Remscheider Ingenieur Reinhard Mannesmann beteiligt sich daran. Mannesmann war am 13. Mai 1856 geboren worden. Im Keller der väterlichen Feilenfabrik baut er zusammen mit seinem Bruder Max eine Versuchsanlage.

Ihre Idee: Ein Rohr aus einem glühenden Block Metall zu formen. Lange Testreihen beginnen. Schließlich gelingt ihnen der Durchbruch: In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1886 entsteht das erste schräggewalze, nahtlose Rohr. Nach diesem Prinzip werden nahtlose Rohre bis heute gefertigt.

Das neue Verfahren spricht sich schnell herum. Andere Erfinder, wie Werner von Siemens, erkennen das Potential und stecken ihr Geld in die ersten Mannesmann-Röhrenwerke. Der wirtschaftliche Erfolg bleibt zunächst aus: Die Rohre sind noch zu dick. Die Brüder finden auch dafür eine Lösung: Das Pilgerschrittverfahren, das durch sein Vor und Zurück beim Walzen an die Echternachter Springprozession erinnert. Erst jetzt beginnt die bahnbrechende Erfindung Geld abzuwerfen. Während Max Mannesmann vor Ort im Walzwerk bleibt, reist sein Bruder Reinhard in die USA und vertreibt dort die Lizenzen für das Verfahren.

Gemeinsam mit seinen fünf Brüdern, allesamt Ingenieure, macht Reinhard Mannesmann weitere Erfindungen. Rund 1.000 Patente, unter anderem für das Gasglühlicht, werden auf den Namen Mannesmann eingetragen. Geldquelle für die vielen Erfindungen und neu gegründeten Firmen der Brüder sind die Röhrenwerke. Die Anteile daran machen die Familie reich.

Das Röhren-Geschäft hat Reinhard Mannesmann längst hinter sich gelassen, als er 1906 nach Marokko kommt. Dort erschließt er Erzbergwerke. Während des Ersten Weltkriegs kauft Reinhard Mannesmann Druckerschwärze in Bulgarien und Rumänien und beliefert damit die deutschen Zeitungen. Außerdem ist er im Vorstand der Mannesmann-Waffen und -Munitionsfabrik. Nach dem Ersten Weltkrieg widmet er sich dem Wohnungsbau; auch hier wieder mit großem Erfindungsreichtum: Er entwickelt das erste Fertighaus aus Betonplatten.

Reinhard Mannesmann stirbt am 20. Februar 1922 mit 66 Jahren in Remscheid an einer Lungenentzündung.

Klick
 
21. February 2007, 08:29   #83
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
21. Februar 1962: "Pumuckl" wird erstmals als Hörspiel ausgestrahlt

Als die Münchner Autorin und Bildhauerin Ellis Kaut im Skiurlaub mit Zipfelmütze und roter Nase durch den Schnee stapft, fällt ihrem Mann spontan der Kosename "Muckl" ein. 1961 sucht Kaut nach einer Idee für ein Kinder-Hörspiel. Da kommt ihr als erstes der Spitzname wieder in den Sinn. Aus "Muckl" wird "Pumuckl", aus der Zipfelmütze eine Struwwelmähne. Nur die rote Nase bleibt.

Am 21. Februar 1962 wird die Serie rund um den eigentlich unsichtbaren, frechen Hausgeist, der am Leimtopf des Schreinermeisters Eder kleben bleibt und fortan von diesem gesehen werden kann, im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt. Für den Kinderfunk - und später für das Kinderfernsehen - wird "Pumuckl" zu einer festen Institution. In rund 90 Hörspielen, drei Fernsehserien und drei Spielfilmen darf er sein Unwesen treiben. Inzwischen hat Pumuckl sogar eine eigene TV-Sendung. Bis nach Brasilien und China ist er bekannt.

Später trägt der Schauspieler Gustl Bayrhammer als Meister Eder maßgeblich zum TV-Erfolg der Serie bei. Von der ersten Hörspielfolge an leiht Hans Clarin dem Kobold seine piepsig-kratzig verzerrte Stimme. Über 40 Jahre haucht er Pumuckl auch auf Schallplatten, im Fernsehen und im Kino Leben ein. Angeblich ruiniert er sich dabei die Stimmbänder. Als Clarin im August 2005 stirbt, wird Pumuckls Stimme im dritten Kinofilm durch die eines anderen Schauspielers ersetzt. Das Publikum straft den Stimmwechsel mit Missachtung und bleibt der Kinokasse fern.

Eigentlich ist Pumuckl "ein Nachkomme der Klabautermänner, die auf allen sieben Meeren und 17 und drei Segelschiffen leben". Mit Hans Clarin aber hat die Figur eindeutig einen anderen Vater. Laut einem Gerichtsbeschluss von 2006 dürfen sich sogar gleich zwei Frauen seine Mutter nennen: Neben der Autorin Ellis Kaut ist dies die Illustratorin Barbara von Johnson. Sie gab dem Kobold in den ersten Büchern die Gestalt, bevor Kauts Schwiegersohn Brian Bagnall das Zeichnen fürs Fernsehen übernahm.

Klick
 
22. February 2007, 09:19   #84
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
22. Februar 1857: Der Physiker Heinrich Hertz wird geboren

In Bonn gehen täglich viele Menschen am Haus in der Quantiusstraße 13 vorbei. Kaum jemand wirft einen Blick auf die Tafel am Eingang: "In diesem Hause wohnte Heinrich Hertz, der die Grundlagen der Funktechnik schuf." Radio, Fernsehen, Radar und Mobilfunk, Halbleitertechnik und Radioastronomie - ohne den Entdecker der elektromagnetischen Wellen wäre daraus nichts geworden. Nachdem 1888 seine bahnbrechenden Versuchen bekannt werden, reißen sich die besten Universitäten Europas um ihn. Hertz entscheidet sich für Bonn, weil er glaubt, in der Ruhe der rheinischen Provinzstadt am ehesten ungestört weiterforschen zu können. Doch dem erst 31-jährigen Star-Physiker bleibt nur noch wenig Zeit. Etliche Krankheiten machen ihm zu schaffen. Zu hartnäckigen Nasen- und Ohrenentzündungen kommen Kiefer- und Knochenleiden. Am Neujahrstag 1894 stirbt Heinrich Hertz an einer Blutvergiftung.

Das Meiste über den Menschen Heinrich Hertz weiß man aus seinen Tagebüchern und den Briefen, die er an seine Eltern geschrieben hat. Vater Ferdinand war ein angesehener Anwalt in Hamburg, wo Heinrich am 22. Februar 1857 als erstes von fünf Kindern geboren wird. Seine Mutter Anna erkennt früh die vielfältigen Begabungen ihres Sohnes. Zum Abitur werden Heinrich ein "sicheres Gedächtnis und scharfe Logik, sowohl für reales wie abstraktes Denken" attestiert. Im Herbst 1877 beginnt Hertz bei Hermann von Helmholtz in Berlin sein Physikstudium und legt nach nur fünf Semestern seine Doktorarbeit "Ueber die Induction in rotirenden Kugeln" vor.

Helmholtz fordert seinen Assistenten Hertz auf, die kühnste Theorie der Physikerzunft jener Zeit auf ihre Tauglichkeit zu untersuchen. 1865 hatte der Engländer James Maxwell die unerhörte Auffassung vertreten, dass ein fließender elektrischer Strom in seiner Umgebung ein elektrisches Feld hervorrufe, dieses wieder ein zweites "und so fort ad infinitum". Den Beweis dafür blieb Maxwell ebenso schuldig wie für seine Folgerung, dass sich die so entstehende Wellenbewegung mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. 20 Jahre später gelingt Hertz, inzwischen Professor für Physik an der Technischen Universität Karlsruhe, die Sensation: In einem inzwischen klassischen Experiment weist er die von Maxwell erdachte "elektromagnetischen Strahlung" unzweifelbar nach. Den physikalischen Wert seiner Arbeit erkennt Hertz sofort, ihre für Technik und Wirtschaft revolutionäre Bedeutung aber nicht. Gerade mal 20 Meter kann der Pionier in seinem Karlsruher Hörsaal drahtlos überbrücken. Sechs Jahre später übermittelt der Russe Popow erstmals eine Meldung über 250 Meter hinweg. Seine ersten gefunkten Worte lauten "Heinrich Hertz".

Klick
 
23. February 2007, 08:35   #85
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
23. Februar 1972: Die erste Lesung der Ostverträge beginnt

"Wir müssen zu einem Miteinander statt einem Nebeneinander kommen", sagt Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in seiner Regierungserklärung von 1969. Er will die starre Blockkonfrontation zwischen Ost und West aufweichen. "Wandel durch Annäherung" umschreiben Brandt und sein Staatssekretär Egon Bahr (SPD) die Entspannungspolitik. Erste Ergebnisse sind der Moskauer und der Warschauer Vertrag, die 1970 unterzeichnet werden. Darin wird die Unverletzlichkeit der - als Folge des Zweiten Weltkrieges entstandenen - Grenzen mit den östlichen Nachbarn festgeschrieben. Die Reaktionen auf die neue Ostpolitik sind geteilt: Brandts Kniefall am Ehrenmal des Warschauer Ghettos im Dezember 1970 wird im Ausland mit Achtung und Respekt aufgenommen. In der Bundesrepublik hingegen kritisieren Springer-Presse und CDU-Opposition die symbolische Handlung als unverständliche Demutsgeste vor dem Warschauer Pakt.

Besonders heftig schlägt Brandt die Kritik zwei Jahre später im Bundestag entgegen. Am 23. Februar 1972 beginnt die erste Lesung der Ostverträge. 22 Stunden sind für die Redeschlacht vorgesehen - verteilt auf drei Tage. In der Debatte muss sich die sozialliberale Koalition vorwerfen lassen, die Einheit Deutschlands für eine vage Hoffnung auf Entspannung zu opfern und Westdeutschland zu einem "Vorposten des Kommunismus" zu machen. Auch Brandts beabsichtigte Annäherung an die DDR wird abgelehnt: "Gewaltverzicht auf dem Papier und bleibender Schießbefehl in der Wirklichkeit, das ist einer der Widersprüche und eine der Realitäten, die wir nicht mitmachen wollen und können", sagt der CDU/CSU-Fraktonsvorsitzende Rainer Barzel. "Wer Angst vor der eigenen Courage hat", kontert Außenminister Walter Scheel (FDP), "der erhebt doch indirekt die Forderung, die Regierung der DDR müsse erst kapitulieren, bevor es zu Kontakten mit der Bundesrepublik kommen darf."

Kaum angesprochen, doch präsent ist auch ein anderes Reizthema: Mit der Anerkennung von Europa in den damaligen Grenzen gibt die BRD die ehemaligen deutschen Ostgebiete auf. "Es ging nicht anders", sagt Bahr als Architekt der Ostverträge rückblickend. "Wir konnten nicht nachträglich den Krieg gewinnen." Damit signalisiert die Regierung Brandt: Nicht die Niederlage von 1945 ist für die Teilung verantwortlich, sondern die Tatsache, dass Deutschland zuvor die Welt mit Krieg überzogen hat. Der Streit um die Verträge mit der UdSSR und Polen wird im Bundestag erst Monate später entschieden: Sie werden am 17. Mai 1972 von einer knappen Mehrheit der sozialliberalen Regierungskoalition gebilligt. Die Unionsabgeordneten enthalten sich fast ausnahmslos der Stimme. Am 3. Juni 1972 treten die Ostverträge in Kraft.

Klick
 
25. February 2007, 14:10   #86
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
24. Februar 1997: Eröffnung der Wehrmachtsausstellung in München

Hunderte von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen demonstrieren auf dem Münchner Marienplatz. "Ehre für die Wehrmacht" steht auf ihren Transparenten. Gemeinsam mit Mitgliedern der Bundeswehr und Burschenschaftlern protestieren die Weltkriegsveteranen gegen die Wehrmachtsausstellung im Rathaus. Zur gleichen Zeit versammelt sich im Hofgarten die Spitze der Münchner CSU zur Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten - angeführt von Peter Gauweiler. Der damalige Landtagsabgeordnete prangert die Ausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" als linkes Machwerk an, das Millionen Soldaten pauschal verurteile. Auch gegen den Stifter der Ausstellung, Jan Philipp Reemtsma, polemisiert Gauweiler: "Wenn er bewältigen will, dass sein Vermögen unter anderem dadurch kommt, dass die Firma Reemtsma der Hauptlieferant der Deutschen Wehrmacht gewesen ist, gibt es für ihn gute Gelegenheit, das zu tun." Einige Tage zuvor hat er dem Erben des Zigarettenkonzerns empfohlen, sich doch besser um die Opfer des Tabakrauchs zu kümmern.

Es gehe nicht um eine pauschale Verunglimpfung aller Soldaten als Verbrecher, betont Oberbürgermeister Christian Uhde (SPD), als er die Ausstellung in München am 24. Februar 1997 eröffnet: "Sie nennt die Befehle, sie nennt die Verbrechen, sie nennt die Namen." Anhand von Lageberichten hoher Militärs, Tagebucheintragungen einfacher Soldaten und Hunderten von Fotos will die Ausstellung das Bild der angeblich sauberen Wehrmacht korrigieren. Denn was sich im Osten abgespielt habe, sei ein Ausrottungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung gewesen, erklärt Reemtsma. Die Ausstellung ist zuvor bereits in 15 Städten gezeigt worden, das erste Mal 1995 in Hamburg. Doch in München eskaliert die Situation, als der "Bayernkurier" den Initiatoren vorwirft, sie führten "einen moralischen Feldzug gegen das deutsche Volk", und die CSU-Fraktion im Landtag sich fast geschlossen gegen die Ausstellung ausspricht. München wird zum Schauplatz der größten Demonstration von Rechtsradikalen seit Anfang der 70er Jahre. Die NPD fordert Gauweiler zur Mitgliedschaft auf. In anderen Städten kommt es danach ebenfalls zu größeren Demonstrationen gegen die Ausstellung, in Saarbrücken sogar zu einem Sprengstoffanschlag. Wenige Wochen nach den Ereignissen in München debattiert der Bundestag über die Wehrmachtsausstellung.

Mit diesen Reaktionen habe er nicht gerechnet, sagt Reemtsma rückblickend. Denn die Verbrechen der Wehrmacht und ihre "wirklich große Nähe" zur Judenvernichtung seien bereits vor Ausstellungbeginn bekannt gewesen. Der Streit wird weiter angeheizt, als der polnische Historiker Bogdan Musial den Vorwurf erhebt, Fotos seien falsch zugeordnet und "bewusst" mit falschen Begleittexten versehen worden: "Die ganze Konzeption ist falsch." Nach anhaltender Kritik von Fachwissenschaftlern lässt Reemtsma die Ausstellung im Herbst 1999 schließen und beauftragt mit der Begutachtung eine unabhängige Historikerkommission. Dieses beanstandet zwar einige Fehler und Flüchtigkeiten, nicht aber die ganze Konzeption. Die Ausstellung wird gründlich überarbeitet und im November 2001 unter dem Titel "Verbrechen der Wehrmacht - Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 bis 1944" wiedereröffnet. Am wesentlichen Inhalt ändert sich im Vergleich zur ersten Ausstellung nichts: Die Wehrmacht als Organisation ist "an allen Verbrechen des Regimes beteiligt gewesen", bilanziert Reemtsma.

Klick
 
25. February 2007, 14:12   #87
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
25. Februar 1707: Carlo Goldoni wird geboren

Truffaldino ist hungrig. "Weißbrot, Schwarzbrot, Mischbrot, Weizenbrot, Roggenbrot, Toastbrot, Pumpernickel": das ist sein Lebenszweck. Da kommt es ihm gerade recht, dass gleich zwei Herren seine Dienste in Anspruch nehmen wollen. "Wenn ich zwei Herren diene, bekomme ich zweimal Lohn und zweimal was zu essen". Klar, dass es da zu allerlei komischen Verwechslungen und Verwicklungen kommt. Schließlich ist Truffaldino eine Figur aus einem Theaterstück des Italieners Carlo Goldoni. Der hat von der Stegreifkomödie der Commedia del'Arte gelernt. Deshalb muss Truffaldino vor Hunger Fliegen essen. Er steckt sich eine Kerze in die Hose, um zu zeigen, wie geil er ist. Und er gerät in einem Gasthaus, wo seine beiden Herren aufeinander treffen, nicht zuletzt wegen seiner Fixierung aufs Essen heillos durcheinander.

Goldoni wird am 25. Februar 1707 in Venedig geboren. Nach einem Studium der Rechte und Philosophie wird er ein stadtbekannter Notar. Seine Liebe aber gilt dem Theater - und dem weiblichen Bühnenpersonal. Aber erst mit 41 Jahren beschließt er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Über 200 Stücke schreibt Goldoni, darunter "Diener zweier Herren" (1745), "Mirandolina" (1752), "Krach in Chioggia " (1761) oder "Trilogie der Sommerfrische" (1745). Revolutionär ist sein Ansatz, den Schauspielern die Maske der Commedia del'Arte abzunehmen: Nicht nur die oft burlesk-grobe Gestik, auch die subtile Mimik soll auf der Bühne mitspielen. "Die Maske ist der Aktion des Schauspielers immer im Wege", schreibt Goldoni. "Ob er froh oder traurig, verliebt oder wütend ist - auf dem gemalten Leder sieht man immer nur dieselbe Miene."

Das Publikum liebt Goldoni für diese neue Qualität seiner komischen Dramaturgie. Die venezianischje Obrigkeit findet die volksnahen Stücke, in denen korrupte und verarmte Adelige sowie geizige Herrschaften eine Hauptrolle spielen und die kleinen Leute meist die Dummen sind, weit weniger witzig. Als man Goldoni mit Haft in den Bleikammern droht, setzt er sich 1761 nach Frankreich ab. Außerhalb von Italien aber lässt sein Schreibfluss nach. In den letzten über 30 Jahren seines Lebens publiziert er nur noch wenig. Er stirbt 1793 in Paris.

Klick
 
26. February 2007, 09:00   #88
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
26. Februar 1932: Johnny Cash wird geboren

In der Zerrissenheit zwischen Gut und Böse, Licht und Schatten, Schuld und Sühne - da liegen die Themen von Johnny Cash. Ein Leben lang hat er in einer fast 50-jährigen Karriere in seinen Balladen mit einfachen, glaubwürdigen Worten davon erzählt. Es sind Songs über das unheimliche Amerika, über die kollektive amerikanische Psyche, über die Underdogs in einem gewalttätigen Land. Fern ab vom konservativen bis reaktionären Country-Establishment in Nashville gibt der Rebell mit dem warmen Bassbariton dem Lebensgefühl jener Menschen Ausdruck, die an den Idealen des amerikanischen Traums gescheitert sind.

Auch in seinem eigenen Leben hat der lange Zeit amphetaminsüchtige Sänger etliche düstere Phasen zu überstehen. Der mehrfach preisgekrönte Film "Walk the line" aus dem Jahr 2005 erzählt davon in eindringlichen Bildern. Geboren am 26. Februar 1932, verbringt Cash eine bitterarme Jugend in Kingsland, Arkansas, als Sohn eines tief religiösen Baumwollpflückers. So stellt er sich denn 1955 dem Besitzer der Sun Studios in Memphis, Sam Phillips, auch als Gospelsänger vor. Doch der Produzent von Elvis Presley ermunterte ihn zu eigenen Songs. Schon mit der zweiten Single "I walk the line" schreibt sich Johnny Cash den ersten Super-Hit - und die Hymne seines Lebens.

Mit "Ring of Fire", geschrieben von seiner späteren Frau June Carter, hat Cash 1963 einen Welt-Hit und ist auch als Schauspieler und Entertainer überaus erfolgreich. Heute noch legendär sind die Konzerte des stets ganz in schwarz gekleideten "Man in Black" in den Gefängnissen St. Quentin und Folsom. Doch Cash hält dem Druck als Star nicht stand, wird tablettensüchtig, trinkt zu viel und rastet aus. 1967 ist er ein Wrack. Erst in den Achtzigern kann Cash mit dem Projekt "Highwaymen" erneut einen Erfolg feiern; dann laufen alle seine Plattenverträge aus. Es ist der junge Hiphop-Produzent Rick Rubin, der Johnny Cash 1994 die Chance gibt, mit allen künstlerischen Freiheiten die musikalische Summe seines Lebens zu ziehen. Schon schwer von Krankheit gezeichnet, gewinnt er damit eine neue Generation von Fans. Nach 500 selbst komponierten Songs erliegt Johnny Cash am 12. September 2003 den Folgen seiner Diabetes.

Klick
 
27. February 2007, 08:43   #89
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
27. Februar 1987: UN-Ozon-Konferenz scheitert in Wien

Februar 1987: Die USA drängen auf ein weltweites Produktionsverbot für Gase, die die Ozonschicht der Erde zerstören. Sie drohen mit einem Importstopp für entsprechende Produkte. Adressaten der Warnung sind die Staaten der Europäischen Gemeinschaft und Japan. Sie sollen, so fordert die US-Regierung, endlich einem "internationalen Abkommen zum Schutz der Ozonschicht" zustimmen. Eine solche Vereinbarung steht bei der UN-Konferenz in Wien vom 23. bis zum 27. Februar 1987 erneut zur Debatte. Zuvor sind zwei UN-Gesprächsrunden in Wien und Genf erfolglos geblieben. Der Vorschlag Amerikas und Skandinaviens sieht vor, möglichst bald aus der Produktion so genannter Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW) auszusteigen - spätestens aber in zehn Jahren.

FCKW werden damals seit Jahrzehnten von der Industrie verwendet. Sie sind ungiftig, nicht brennbar, geruchlos und wärmeisolierend. Eingesetzt werden sie als Treibgas in Spraydosen und als Kühlmittel in Klimaanlagen und Kühlschränken. Sie dienen auch zum Aufschäumen von Kunststoffen. Doch bereits 1974 haben die Chemiker Sherwood Rowland und Mario Molina in Laborversuchen herausgefunden, dass FCKW unter bestimmten Bedingungen Ozon, eine chemische Verbindung aus drei Sauerstoff-Atomen, zerstören können. Das bedeutet: FCKW lösen in der oberen Atmosphäre die Ozonschicht auf, die das Leben auf der Erde vor schädlichen UV-Strahlen der Sonne schützt. Die Reaktionen auf diese Erkenntnis sind halbherzig: Während die USA, Kanada und Schweden wenigstens in Spraydosen FCKW verbieten, wollen die EG-Staaten deren Verwendung lediglich um ein Drittel reduzieren.

Zahl der Hautkrebserkrankungen steigt

1985 entdecken britische Polarforscher ein Ozonloch über der Antarktis. Warum es sich ausgerechnet über dem Südpol befindet, ist zunächst unbekannt. Atmosphärenforscher Paul Josef Crutzen löst später das Rätsel und bekommt dafür 1995 den Nobelpreis für Chemie - zusammen mit Rowland und Molina: "Das hängt mit sehr tiefen Temperaturen zusammen, die dort während des langen Winters entstehen." Eine ähnliche Entwicklung wird auch am Nordpol beobachtet. Für die Forscher ist klar: Die Zahl der Hautkrebserkrankungen wird zunehmen. Daraufhin versammelt die Uno-Umweltorganisation Unep die Politiker an einem Tisch. Zunächst ohne konkrete Ergebnisse. Auch die zweite UN-Konferenz in Genf scheitert am 27. Februar 1987. Erst sieben Monate später einigt sich die Weltgemeinschaft auf ein internationales Schutzabkommen. Das so genannte Montrealer Protokoll tritt schließlich Anfang 1989 in Kraft. FCKW werden weltweit verboten und ihre Produktion schrittweise eingestellt.

Das Ozonloch über der Antarktis wächst dennoch weiter: 2006 war es erstmals so groß wie die USA und Russland zusammen. Der Grund: Die meisten FCKW haben sich in der unteren Atmosphäre angehäuft und sind noch gar nicht in die Stratosphäre durchgedrungen, sagt Forscher Crutzen. Erst nach 2050 könne sich die Ozonschicht vermutlich wieder regenerieren.

Klick
 
28. February 2007, 08:31   #90
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
28. Februar 2002: Der letzte Tag der D-Mark

Hupend fahren die Autos im Korso durch die Straßen. An den Ausgabestellen treten sich die Menschen auf die Füße. Scheiben gehen zu Bruch, jemand verliert seine Schuhe, ein anderer droht einem Drängler Prügel an. "Halleluja, halleluja, halleluja D-Mark" schallt es durch die Hallen. Stolz und glücklich halten ehemalige DDR-Bürger 1990 ihr erstes Westgeld, das als Garant stabiler Märkte gilt, in ihren Händen. Die neuen Scheine, so denken viele, werden den Aufschwung bringen. Tatsächlich markiert die Einführung der D-Mark im Osten eher das Ende der bisherigen Industrie- und Wirtschaftsstruktur. Die Vision "blühender Landschaften" wird nicht eingelöst.

Der Mythos der D-Mark als Wirtschaftswunderwaffe kam in den Nachkriegsjahren auf. 1948 ist die alte Reichsmark nach dem verlorenen Weltkrieg nichts mehr wert. Die Geschäfte sind leer, eine Zigarette kostet auf dem Schwarzmarkt 60 Reichsmark. Dann kommt per Schiff in Bremerhaven die frisch gedruckte neue Währung an. Kaum hat jeder Bürger in den Zonen der Westalliierten 40 D-Mark als Startkapital erhalten, füllen sich wie von Geisterhand die Läden. Natürlich lag die Ware bereits vor der Währungsreform auf Lager. Aber die Legende will, dass erst die Kaufkraft der stabilen D-Mark die Regale wieder füllte.

Den "Schatz unseres Landes nach innen und nach außen" wird Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) die D-Mark nennen. Später wird er betonen, dass "die Vision einer politischen europäischen Union auch auf das engste verknüpft mit einer europäischen Währungsunion" sei. Mit der aber kommt das Ende der Mark und der Anfang des Euro. 200.000 Tonnen D-Mark werden im Verhältnis eins zu 1,95583 eingetauscht. Am 28. Februar 2002 wird die D-Mark endgültig vom Euro als einzigem Zahlungsmittel abgelöst.

Klick
 
1. March 2007, 09:25   #91
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
01. März 1907: Béla Barényi wird geboren

Im Sommer 1952 erhält Béla Barényi sein bedeutendstes Patent. Es geht um ein "Kraftfahrzeug, insbesondere zur Beförderung von Personen, dadurch gekennzeichnet, dass Fahrgestell und Aufbau so bemessen und gestaltet sind, dass ihre Festigkeit im Bereich des Fahrgastraumes am größten ist und nach den Enden zu stetig und stufenweise abnimmt". Anders ausgedrückt: Es geht um ein Auto mit Knautschzonen im Heck- und Frontbereich, die die Aufprallenergie im Falle eines Unfalls in sich aufnehmen können, um Passagiere zu schützen. Bisher waren alle Stellen am Auto gleich stabil, Bleche und Rahmen überall gleich stark: ein immenses Risiko für Leib und Leben der Insassen. 1959 geht mit dem Mercedes 220 das erste Fahrzeug mit Knautschzone in Serie. Es ist eine Revolution im Autobau.

Forschen unterm Glassturz
Barényi wird am 1. März 1907 als Sohn einer großbürgerlichen Unternehmerfamilie im österreichischen Hirtenberg geboren. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters verarmt, entscheidet er sich, sein Leben fortan in den Dienst der automobilen Sicherheit zu stellen. Jahrelang werden seine genialen Ideen als Phantastereien verkannt. Erst der Generaldirektor und spätere Vorstandsvorsitzende von Daimler Benz, Wilhelm Haspel, erkennt 1939 sein Talent. Eine halbe Stunde Gespräch reichen Haspel aus, dann nimmt er den Visionär in seine Dienste. "Sie kommen unter einen Glassturz", soll er Barényi die ungestörte Arbeit im Haifischbecken neidischer Konkurrenten unter seinem persönlichen Schutz schmackhaft gemacht haben. "Und Sie denken 40 Jahre voraus." An diese Weisung wird sich Barényi halten.

Barényi konstruiert eine ökonomischere Lenkung. Er führt den Crashtest in den Entwicklungsprozess des Autos ein. Er erfindet eine stabilere Fahrgastzelle. Und er zeichnet bereits im Jahr 1925 ein Automobil mit buckliger Karosserie, für das Ferdinand Porsche 15 Jahre später mit Unterstützung Adolf Hitlers den Ruhm einfährt: den VW Käfer. Barényi stirbt 1997 in Böblingen. Zum Zeitpunkt seines Todes besitzt er über 2.500 Patente.

Klick
 
2. March 2007, 08:12   #92
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
02. März 1977: Gründung der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg

Von seiner Hütte aus kann der Moderator von Radio Freies Wendland beobachten, wie andere Hütten unter dem Druck von Polizei und Bulldozern zusammenbrechen. "Die Bullen kommen immer näher", kommentiert er das Geschehen ins Mikrophon, "der ganze Platz ist umstellt von Bullen." Am Ende wird der Piratensender selbst Opfer der Abräumaktion. Radio Freies Wendland bricht die Übertragung ab. "Wir müssen uns noch ein wenig verstecken", sagt der Moderator zum Abschied. "Vielen Dank fürs Zuhören. Der Kampf geht weiter. Tschüß."

90 Minuten hat die Polizei den rund 1.500 Kernkraftgegnern und ihren Hühnern gegeben, um die selbstgebauten Hütten ihres mit Friseur und Bäcker ausgestatteten Anti-Atom-Dorfs am Bohrplatz 1004 bei Gorleben im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg zu räumen, dann kommen die Planierraupen. Im größten Polizeieinsatz der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte sollen sie den Weg frei machen für ein Endlager atomaren Abfalls. Dagegen wehrt sich die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, die am 2. März 1977 als eingetragener Verein gegründet wird. Denn was die Politik als harmlosen "Entsorgungspark" verkaufen will, macht den Bauern und Wirten der Umgebung Angst. Aber auch Künstler, Liedermacher und Studenten kommen, um die Initiative zu unterstützen. "Und diese so genannte städtische Intelligenz paarte sich dann mit der so genannten Bauernschläue", sagt ihr Sprecher Francis Althoff. "Und daraus wurde einfach dieser unnachahmliche Widerstand". Das erklärte Ziel heißt: "Gorleben erledigen" und "die Stilllegung aller Atomanlagen".

Gorleben bleibt, die Atomkraft auch. Deshalb geht der Protest auch nach der Räumung des "Hüttendorfes 1004" weiter. Verstärkt wird er durch den Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 und ab 1995, als tatsächlich erste Castor-Behälter nach Gorleben rollen. Die Bürgerinitiative protestiert, obwohl niemand so recht an den durchschlagenden Erfolg ihrer Aktionen glauben will. "Wenn man vor einem Atomkraftwerk steht und demonstriert, was ja jeden Tag sinnvoll ist, ist es aber im Endeffekt etwas frustrierend", sagt Althoff: "Weil am nächsten Tag ist das Atomkraftwerk ja noch da."

Klick
 
3. March 2007, 09:40   #93
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
03. März 1982: Bundestagssitzung mit nur drei Abgeordneten

Nach landläufiger Meinung hat ein Bundestagsabgeordneter seinen Arbeitsplatz im Plenarsaal. Weil die Fernsehkameras bei Übertragungen aus dem Parlament immer wieder über leere Bankreihen schwenken, gelten solche Bilder vielen Wählern als Beweis für die Faulheit ihrer Volksvertreter. Dabei ist ein Abgeordneter "nirgendwo so faul wie im Plenum", erklärt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Die eigentliche politische Arbeit findet nämlich in Gremien, Ausschüssen, in Fraktionssitzungen und in den Wahlkreisen statt. Als Parlamentspräsident Richard Stücklen am 3. März 1982 die Fragestunde des Bundestages eröffnen will, muss er allerdings einen historischen Tiefstand zur Kenntnis nehmen.

"Herr Kollege Wehner, ich freue mich, dass ich außer Ihnen noch zwei Abgeordnete sehe, die Fragen zu stellen beabsichtigen." Hinter dieser ironischen Eröffnung verbirgt Stücklen, immerhin seit 1949 Bundestagsmitglied, seinen Ärger über etwas, das er nach eigenen Worten noch nie erlebt hat. Auf der Regierungsbank halten sich vier Staatssekretäre bereit, den Volksvertretern Rede und Antwort zu stehen - ihnen gegenüber einsam der SPD-Fraktionschef Herbert Wehner. Zwei weitere Sozialdemokraten hasten gerade noch herein, als der Bundestagspräsident seinen Platz einnimmt. Die restlichen 516 Plätze bleiben leer. Noch am selben Tag staucht Wehner, der als einziger Abgeordneter noch nie eine Plenarsitzung versäumt hat, seine Parlamentskollegen zusammen. Solche Fragestunden seien für die Katz, wenn nicht einmal die Frageneinreicher kämen, schäumt der SPD-Zuchtmeister und fordert mehr Respekt vor der Rolle des Parlaments.

Gedacht war die 1952 eingeführte Fragestunde als Gelegenheit für die Opposition, die Regierenden persönlich mit Kritik zu konfrontieren. Durch eine ausufernde Bürokratisierung hat sie aber alle Schneidigkeit eingebüßt. So sind etwa zu den vorher schriftlich einzureichenden Fragen nur zwei Zusatzfragen erlaubt, die auch noch wertungsfrei formuliert sein müssen. Das Ergebnis: die Regierungsvertreter verkleiden ihre Antworten mit nichtssagenden Phrasen und Wortgeklingel. Das geht selbst dem Bundestagspräsidenten auf die Nerven. Die außerordentliche Wendigkeit eines Finanz-Staatssekretärs kommentiert Stücklen ätzend mit der Bemerkung: "Mäh hat der Ziegenbock gemacht, als man ihn melken wollte". Obwohl in der Folge immer wieder neue Spielregeln diskutiert werden, um die Fragestunde spannender zu gestalten, bleibt letztlich alles beim Alten. Im Juni 1993 muss Bundestagspräsidenten Rita Süssmuth einen neuen Rekord protokollieren: Sie findet nur noch zwei Abgeordnete vor.

Klick
 
4. March 2007, 06:36   #94
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
04. März 1932: Geburtstag der Sängerin Miriam Makeba

Nicht nur Marilyn Monroe bringt US-Präsident John F. Kennedy bei dessen legendärer Geburtstagsparty im New Yorker Madison Square Garden ein Ständchen. Nach dem sexy gehauchten "Happy Birthday" des blonden Filmstars begeistert eine schlanke, schwarze Sängerin mit großen Ohrringen Publikum und Präsident gleichermaßen. Miriam Makeba gilt als die schönste Stimme Afrikas, mit Augen so tief wie der Ozean, wie ihr Förderer Harry Belafonte sie beschreibt. Kurz zuvor hat der Calypso-König der lebhaften Südafrikanerin zu einem Plattenvertrag und einem Visum für die USA verholfen. Nach einer Auslandsreise hatte das Apartheids-Regime in Südafrika seine unbequemste Kritikerin aus ihrer Heimat verbannt. Amerika dagegen feiert die exotische, singende Freiheitskämpferin - bis sie 1968 den Black-Power-Aktivisten Stokely Carmichael heiratet. Umgehend sorgt das FBI dafür, dass Miriam Makeba als unerwünschte Person die USA verlässt.

Erniedrigung, Diskriminierung und Verfolgung kennt die am 4. März 1932 in einem Township von Johannesburg geborene Sängerin seit ihrer Kindheit. Ihre Mutter, eine Geistheilerin vom Stamm der Xhosa, bemerkt schon früh das musikalische Talent der Tochter und fördert sie. Miriam tourt durch die Bars von Johannesburg und tritt als Solistin der African Jazz and Variety Show auf. Der internationale Durchbruch gelingt ihr mit dem Anti-Apartheid-Film "Come back Africa", der 1959 bei den Filmfestspielen in Venedig gefeiert wird und zu ihrer Ächtung im Burenstaat führt. Jede Gelegenheit nutzt Miriam Makeba von nun an, um das Rassisten-Regime in Kapstadt anzuprangern. 1963 hält die "Stimme Afrikas" eine flammende Rede vor der UNO-Vollversammlung.

Lange bevor World Music zum Begriff wird, erspielt sich Miriam Makeba auf Tourneen rund um den Globus mit ihren mal wütenden, mal zärtlichen Songs eine weltweite Fangemeinde. Kollegen wie Duke Ellington, Miles Davis oder Harry Belafonte schätzen sie als Inspirationsquelle der afro-amerikanischen Musik. Ihr bis heute unverwüstlicher Hit "Pata Pata", eigentlich eine ausgelassene Township-Tanznummer, erklimmt 1967 als erster afrikanischer Song die Top Ten der US-Pop-Charts. Nach ihrer Vertreibung aus den Vereinigten Staaten wird es ruhig um die Sängerin. Makeba siedelt nach Guinea um und verkörpert als UNO-Botschafterin des Landes gleichsam das Gewissen des ganzen Schwarzen Kontinents. 1987 holt Paul Simon sie für seine "Graceland-Tour" zurück auf die Konzertbühne. Drei Jahre später bittet der aus der Haft entlassene Nelson Mandela die "Mutter Afrikas", in ihr Heimatland Südafrika zurückzukehren. Heute kümmert sich Miriam Makeba, die zuletzt 2005 die CD "Homeland " veröffentlichte, in Johannesburg um Not leidende Mädchen und Frauen.

Klick
 
5. March 2007, 08:42   #95
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
05. März 1922: Autor und Regisseur Pier Paolo Pasolini wird geboren

Sechs Stunden vor seinem brutalen Ende gibt Pier Paolo Pasolini sein letztes Interview. Darin bekennt Italiens umstrittenster Intellektueller: "Für das Leben, das ich führe, bezahle ich einen Preis." Immer wieder hat Pasolini darauf bestanden, den Tod als "höchsten Ausdruck" eines Menschen und seines Werks zu sehen; immer wieder hat der bekennende Schwule die Art und den Ort seines Todes in Schriften und Filmen zum Thema gemacht. Am Morgen des 2. November 1975 findet man den zerschmetterten, dreimal von seinem eigenen Auto überrollten Körper Pasolinis auf dem Fußballplatz am Rande einer Barackensiedlung von Ostia. Ein 17-jähriger Stricher, den der Regisseur in der Nacht zuvor kennengelernt hatte, wird kurz darauf als Mörder verhaftet und abgeurteilt.

Pasolini ist ein Seismograf der italienischen Gesellschaft; zugleich ein Dissident, verhasst von der Rechten, abgelehnt von der Linken. Seine Kritik an der Konsumgesellschaft, den Medien, dem öffentlichen Leben, fällt gnadenlos aus. "In wenigen Jahren sind die Italiener zu einem heruntergekommenen, lachhaften, monströsen, kriminellen Volk geworden." Lediglich eine Minderheit verehrt den bekennenden Kommunisten, der von der Kommunisten Partei als Abweichler ausgeschlossen und von der katholischen Kirche als Satan persönlich verteufelt wird. In Deutschland ist Pasolini, der am 5. März 1922 in Bologna geboren wurde, weniger als Schriftsteller denn als Schöpfer von Filmen wie "Accatone" (1961), "Mamma Roma" (1962), "Edipo Re" (1967) oder "Teorema" (1968) bekannt. Wegen seines letzten Werks, der verstörenden De-Sade -Verfilmung "Die 120 Tage von Sodom", erhält Pasolini Morddrohungen von Neofaschisten aus ganz Europa. In einigen Ländern ist der lange Zeit indizierte Film bis zum heutigen Tag verboten.

Nach seinem Tod erteilt das offizielle Italien dem Ketzer die Absolution. Die Nation feiert Pasolini als neuen Heiligen; Ideologen aller Richtungen bemühen sich, den Schriftsteller und Regisseur als einen der ihren zu vereinnahmen. Selbst Roms Bürgermeister Veltroni spricht noch heute von einem "nicht zu besänftigenden Schmerz", den die Ermordung Pasolinis verursacht habe. Einer Umfrage zufolge nennen 75 Prozent der Italiener ihn "einen wichtigen Bezugspunkt" des 20. Jahrhunderts. Dementsprechend groß fällt das Medienecho aus, als vor zwei Jahren der als Mörder verurteilte, inzwischen 47-jährige Pino Pelosi, vor laufenden Kameras sein damaliges Geständnis widerruft. Vier andere Täter aus dem rechtsradikalen Milieu hätten mit dem verhassten Pasolini abgerechnet. Er selbst habe aus Angst um seine Familie geschwiegen. Sicher ist, dass der Gerichtsmediziner damals die Anwesenheit weiterer Angreifer zweifelsfrei festgestellt hat. Die Ermittlungen im Mordfall Pasolini werden daraufhin wieder aufgenommen - Ende offen.

Klick
 
6. March 2007, 08:39   #96
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
06. März 1912: Die Eisenbahnlinie über die Anden eröffnet

Als die Strecke "Ferrocarril Arica-La Paz" von der chilenischen Pazifikküste über die Anden nach La Paz am 6. März 1912 mit einer ersten kleinen Feier eröffnet wird, ist sie noch gar nicht fertig. Der erste Zug kann erst im Januar des folgenden Jahres fahren. Mit einer Länge von 457 Kilometern ist die Strecke zwar die kürzeste Verbindung zwischen dem Pazifik und der Hauptstadt Boliviens. Die Bauarbeiten gestalten sich trotzdem äußerst schwierig. Denn die "Ferrocarril Arica-La Paz" liegt an ihrer höchsten Stelle 4.265 Meter über dem Meeresspiegel. Nur die heimischen Indios können in solchen Höhen arbeiten. Viele Bauarbeiter verlieren ihr Leben, ebenso wie Zugführer und Reisende. Bis heute zeugen rostende Wracks in den Schluchten vom gefährlichen Aufstieg.

Produkt des Krieges
Die "Ferrocarril Arica-La Paz" ist ein Produkt des so genannten Salpeterkriegs, der wegen des für die Dünger- und Schwarzpulverproduktion wichtigen Rohstoffs geführt wurde und 1884 mit einer Niederlage Boliviens endet. Bolivien muss die salpeter- und kupferreiche Provinz Atacama und die Küstenprovinz Tarapacá an Chile abtreten und verliert damit seinen direkten Zugang zum Meer. Im Gegenzug verpflichtet sich Chile zum Bau der Eisenbahnlinie zum Pazifischen Ozean. Er beginnt 1906 - unter Federführung des deutschen Baukonzerns Philipp Holtzmann und mit Kapital der Deutschen Bank. Nach der Fertigstellung braucht man für die Strecke mit ihren sieben Tunneln durch Wüste und Hochgebirge rund zwölf Stunden.

Aber die "Ferrocarril Arica-La Paz" rentiert sich nicht. Als die Strecke endlich eröffnet wird, existiert längst eine Asphaltstraße, auf der Lastwagen die meisten Güter transportieren. Der Bahntrasse bleiben nur die unrentablen Passagiere. Im Bahnhof Central 1.481 Meter über Normal Null reparieren zunächst rund einhundert Arbeiter die Lokomotiven und Waggons. Bald ist nur noch ein Mann übrig, der inmitten einer Geisterstadt die Tankanlage bedienen muss. 2005 wird der Betrieb ganz eingestellt - und dies, obwohl sich die chilenische Staatsbahn als Eigentümer der Strecke im chilenisch-bolivianischen Staatsvertrag von 1904 verpflichtet hatte, sie permanent offenzuhalten. Am Ende ist die Betreibergesellschaft der einst so stolzen "Ferrocarril Arica-La Paz" hoffnungslos verschuldet.

Klick
 
7. March 2007, 08:34   #97
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
07. März 1957: Israel übergibt die Sinai-Halbinsel an UN-Truppen

Im Jahr 1871 erklingt Verdis Oper "Aida" nahe bei ihrem Originalschauplatz: In Ägypten. Mit dem Musiktheater weihen Engländer und Franzosen den Suezkanal ein, die 171 Kilometer lange, schleusenlose Verbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer. Diese Abkürzung erspart Schiffen auf dem Weg in den Indischen Ozean die Umrundung Afrikas. Eigentümer des Kanals ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Paris.

Ägypten kommt durch den Kanal unter europäischen Einfluss, obwohl es zu dieser Zeit noch zum Osmanischen Reich gehört. Nach dessen Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg übernimmt England das Land am Nil als Mandatsmacht. Die Herrschaft der Briten endet offiziell 1948, im gleichen Jahr, in dem sich die Kolonialmacht auch aus Palästina zurückzieht. Am Suezkanal bleibt jedoch eine britische Schutztruppe stationiert. Selbst 1952, als ägyptische Offiziere ihren König stürzen, bleibt die europäische Kontrolle über den Kanal unangetastet.

Erst der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser mit seiner arabisch-nationalistischen Ausrichtung findet sich damit nicht mehr ab. 1956 verkündet er die Verstaatlichung des Suezkanals. Ägyptische Truppen marschieren in die Kanalzone ein. Gleichzeitig sucht Nasser die Konfrontation mit dem jungen Staat Israel. Nasser blockiert die Seeverbindung zum Hafen Eilat. Israel ist damit von seiner Ölversorgung aus dem Iran abgeschnitten.

David Ben Gurion, der israelische Premier, reagiert mit einem Militärschlag: Israelische Luftlandeeinheiten besetzen Schlüsselpositionen auf dem Sinai. Panzerverbände stoßen bis zum Suezkanal vor. Engländer und Franzosen rücken nach - so wie es zuvor bei Geheimverhandlungen vereinbart worden war. Damit hat sich die Suezkrise zu einer internationalen Kriegsgefahr ausgewachsen. Denn die Sowjetunion, wichtigste Verbündete und Waffenlieferant Ägyptens, sieht ihre Interessen bedroht. Chruschtschow droht sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen. Schließlich schalten sich die USA ein und vermitteln. Sie drängen die europäischen Truppen zum Rückzug. Der Kanal bleibt in ägyptischer Hand. Am 7. März 1957 übergibt Israel die Sinai-Halbinsel an UN-Truppen. Bis zum Friedensabkommen mit Ägypten im Jahr 1978 wird es jedoch noch zwei Kriege und eine erneute israelische Besetzung des Sinai geben.

Klick
 
8. March 2007, 11:25   #98
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
08. März 1887: Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein stirbt

Als sie sich kennen lernen, ist er 35 Jahre alt: Franz Liszt ist einer der prominentesten Pianisten seiner Zeit. Er reist rastlos von Konzert zu Konzert und hat zahlreiche Affären mit Verehrerinnen. Carolyne Iwanowska ist 28: Eine reiche polnische Landadelige, die unglücklich mit Nikolaus von Sayn-Wittgenstein, einem russischen Rittmeister deutscher Herkunft, verheiratet ist. Die Fürstin und der Musiker treffen sich im Februar 1847 in Kiew. Er gibt ein Benefizkonzert für Bedürftige - Carolyne zahlt 100 Rubel für ihre Karte. Er sucht sie daraufhin in ihrem Hotel auf, um sich zu bedanken. Das ist der Anfang ihrer Liebe.

Carolyne verkauft ihr Gut in der Ukraine und reist mit einer Million Rubel sowie ihrer kleinen Tochter zu Liszt. Er gibt seine Karriere als Klaviervirtuose auf und widmet sich ganz dem Komponieren und Dirigieren. Gemeinsam leben sie in der "Altenburg", einem großbügerlichen Haus in Weimar, wo Liszt als Hofkapellmeister engagiert worden ist. Carolyne wird seine Muse: "Genie hat ihm nie gefehlt - aber Sitzfleisch und Fleiß, Arbeitsausdauer", stellt sie fest. "Man muss bei ihm mit einer Arbeit sitzen, solang man will, dass er selbst arbeitet." Die entstehenden Kompositionen sind eine Art Gemeinschaftwerk: "Er hat komponiert, aber die wesentlichen Anregungen sind mit von ihr gekommen", sagt Liszt-Forscher Detlef Altenburg. Franz Liszt nennt sich selbst den "Sclavissimo" der Fürstin, die eisern Regie in seinem Leben führt. Zusammen geben die beiden Sonntagsmatineen, zu deren Gästen unter anderem Richard Wagner, Hector Berlioz, Bedrich Smetana und Johannes Brahms zählen.

Doch die Idylle trügt: Liszt und die Fürstin werden gesellschaftlich geächtet. Weil sie nicht verheiratet sind, meidet sie die Weimarer Hofgesellschaft. Carolynes Ehemann Nikolaus sträubt sich aus finanziellen Gründen gegen die Annulierung ihrer kirchlichen Eheschließung. Beide sind tief fromme Katholiken. Im Mai 1860 reist Carolyne aus Weimar ab. Ihr Ziel ist Rom. Dort will sie vom Papst die Anerkennung ihrer Scheidung erlangen. Die Heirat soll an Listzts 50. Geburtstag im Oktober 1961 in Rom stattfinden. Doch unmittelbar vorher trifft das Verbot ein, das die Familie des Fürsten erwirkt hat.

Daraufhin resignieren die beiden Liebenden: Liszt wird Geistlicher, empfängt die "niederen Weihen" und wohnt vorübergehend in einem römischen Kloster. Die Fürstin lebt noch über 25 Jahre zurückgezogen in der Via Babuino in Rom, betreibt theologische Studien und empfängt Besuche. Sie stirbt am 8. März 1887 im Alter von 68 Jahren - nur acht Monate nach dem Tod von Liszt im Juli 1886. An ihrem Sarg erklingt, wie sie es wünschte, das "Requiem" ihres Freundes Abbé Franz Liszt, der ihr einmal schrieb: "Ohne diese Liebe ist weder Erde noch Himmel für mich begehrenswert."

Klick
 
9. March 2007, 08:46   #99
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
09. März 1957: SED-Philosoph Wolfgang Harich wird verurteilt

"Am 7. November wurde ich zu Ulbricht bestellt", erzählt der Philosoph Wolfgang Harich später. 1956 wird ihm vom damals mächtigsten Mann der DDR eine Audienz gewährt, die das Ende für Harichs Karriere bedeutet. Der 32-Jährige leitet gemeinsam mit Ernst Bloch die Deutsche Zeitschrift für Philosophie, arbeitet als Cheflektor beim Aufbau-Verlag und hält an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Vorlesungen über Kant und Hegel. Seit der Gründung der DDR im Jahr 1949 ist Harich SED -Mitglied.

Er will an vorderster Front dabei sein, wenn eine neue Gesellschaft nach den Theorien von Marx, Engels und Lenin aufgebaut wird. Doch Harich hat sich das neue Zeitalter anders vorgestellt: Kein Funktionärssozialismus, kein Stalinismus, wie ihn Walter Ulbricht verkörpert. Harich will vielmehr ein einheitliches Deutschland mit Arbeiterräten und Selbstbestimmung in den Betrieben. Der Sieg des Sozialismus in Westeuropa soll durch eine Verschmelzung von SPD und entstalinisierter SED herbeigeführt werden.

Harich wird mit seinen Ideen und seinem rhetorischen Talent rasch zur zentralen Figur eines Diskussionszirkels beim Berliner Aufbau-Verlag, zu dem Verlagsleiter Walter Janka, der Philosoph Manfred Hertwig und der Wirtschaftswissenschaftler Bernhard Steinberger gehören. Als Nikita Chruschtschow im Februar 1956 auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit Stalin und seinen Verbrechen abrechnet, geht Harich in die Offensive und fordert in einem 50-seitigen Konzept Ulbrichts Ende: Voraussetzung für die "Wiedervereinigung der deutschen Arbeiterbewegung" sei ein "Führungswechsel in der SED ".

Kurz nach dem Aufstand in Ungarn im Oktober 1956 wird Harich zum einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Puschkin geladen und über seine Ansichten ausgefragt. Ein paar Tage später danach wird Harich zu Ulbricht bestellt. Ulbricht bezeichnet die Vorgänge in Ungarn als Konterrevolution und sagt zu Harich: "Wenn sich hier so was rausbildet, wie [...] in Ungarn, in Budapest. Das wird im Keime erstickt, ja?!" Wenig später werden Harich, Hertwig, Janka und Steinberger verhaftet.

Ulbricht will einen Schauprozess. Dazu gehört - nach stalinistischen Vorbild - ein geständiger Angeklagter, der sich voller Reue zeigt und seine tatsächlichen oder vermeintlichen Mittäter belastet. Anfang März 1957 ist Harich soweit: Er gesteht seine staatsfeindlichen Aktivitäten und bedankt sich bei der Stasi, dass sie ihn aufgehalten hat. Der Prozess dauert drei Tage. Am 9. März 1957 ergeht das Urteil: Zehn Jahre Haft für Harich wegen so genannter Boykotthetze. Steinberger bekommt vier Jahre, Hertwig zwei Jahre Bautzen. In einem zweiten Prozess erhält auch der Rest der angeblichen Verschwörer Gefängnisstrafen. Janka, altgedienter Kommunist und Spanienkämpfer, ist der einzige, der kein Geständnis ablegt - und Harich als Denunzianten bezeichnet. Als Harich 1964 nach acht Jahren amnestiert wird, eilt ihm der Ruf des Verräters voraus.

Nach dem Ende der DDR wird das Urteil gegen Harich aufgehoben. Er hofft, seine Ehre doch noch retten zu können, und beantragt vor Gericht, dass die Prozessakten von damals geöffnet werden. Doch sein Antrag wird abgelehnt. Wolfgang Harich arbeitet in seinen letzten Lebensjahren an einer Monografie über seinen ersten philosophischen Lehrer Nicolai Hartmann. Sie erscheint nie. Harich stirbt am 15. März 1995.

Klick
 
10. March 2007, 12:16   #100
Jules
 
Benutzerbild von Jules
 
Registriert seit: September 2002
Ort: Nähe Düsseldorf
Beiträge: 2.352
10. März 1997: Gier und Gejammer - Der neue Markt startet an der Frankfurter Börse

"Es wird in einem schrecklichen Blutbad enden am Neuen Markt", warnt Börsen-Experte André Kostolany. Doch die Börsen-Euphorie lässt sich nicht bremsen. Kritiker gelten als Miesmacher und werden nicht gehört. "Das war Halli-Galli hoch zehn", erinnert sich Tobias Belger, Händler auf dem Frankfurter Börsenparkett.

Dabei hatte der Ausnahmezustand ganz klein angefangen: Mit zwei Firmen - dem Autozulieferer Bertrandt und dem Telefondienstleister Mobilcom - startet die Frankfurter Börse am 10. März 1997 den so genannten Neuen Markt. Er wendet sich nach Darstellung der Deutschen Börse an kleine und mittlere Unternehmen, die bisher noch keine Chance hatten, an die Börse gebracht zu werden. "Der Neue Markt verfolgt das Ziel, Unternehmen den Zugang zum Kapitalmarkt zu verschaffen. Das heißt, die Eigenkapitalfinanzierung über den Aktienmarkt zu ermöglichen." Die Börsenkandidaten für den Neuen Markt stammen vorwiegend aus den Branchen Multimedia, Telekommunikation, Biotechnologie und Umwelttechnik.

Das einsetzende Börsenfieber hat seinen Ursprung in den USA, wo Firmen mit völlig neuen Geschäftsideen vor sich reden machen: Der Buchhändler Amazon, die Suchmaschinen Yahoo und Google, die Vermarktungsplattform Ebay. "Dann sind die ganzen Garagenfirmen an die Börse gekommen", erinnert sich ARD -Börsenreporter Stefan Wolff. "Dass in der Zeit große Verluste in den Bilanzen geschrieben wurden, hat damals niemanden interessiert."

An der herkömmlichen Börse der Dax-Standardwerte hätten solche Firmen keine Chance auf Akzeptanz gehabt. Beinahe täglich gibt es neue Börsengänge: "Da haben auch Banken Unternehmen an die Börse gebracht, die da nichts zu suchen hatten", sagt Jürgen Kurz von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz rückblickend. "Da haben Anleger Aktien von Firmen gekauft, die meilenweit von der Börsenfähigkeit entfernt waren." Etliche Privatanleger seien "ein Stück weit auch abgezockt" worden.

Im März 2000, drei Jahre nach dem Start, gibt es mehr als 300 Aktien am Neuen Markt. Der eigens geschaffene Index Newmax hat den Dax weit hinter sich gelassen und die Marke von 10.000 Punkten erreicht. Doch von da an geht es bergab: Betrügereien werden aufgedeckt, Ideen erweisen sich als Bluff, Firmen gehen Pleite - das Geld der Anleger wird regelrecht verbrannt.

Der Gier folgt das Gejammer: Millionen von Anlegern, die Aktien zu Höchstkursen gekauft haben, bezahlen ihren Ausflug in die Börsenwelt mit schmerzlichen Verlusten. Die Börse sei dafür nicht verantwortlich zu machen, sagt deren Sprecher Walter Allwicher. Nirgendwo habe es strengere Transparenzpflichten als am Neuen Markt gegeben. Doch er räumt ein: "Was sicherlich geholfen hätte, wäre, stärker auf das Chancen-Risiko-Profil dieses Marktes hinzuweisen."

Im Juni 2003 wird der Neue Markt abgeschafft.

Klick
 
Antwort

  Skats > Interessant & Kontrovers > Das Leben

Stichworte
stichtage




Alle Zeitangaben in WEZ +1. Es ist jetzt 20:48 Uhr.


Powered by vBulletin, Copyright ©2000 - 2024, Jelsoft Enterprises Ltd.
Online seit 23.1.2001 um 14:23 Uhr

Die hier aufgeführten Warenzeichen und Markennamen sind Eigentum des jeweiligen Herstellers.