25. November 2002, 12:09 | #1 |
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Buchtip: Gerhard Henschel - Die Liebenden
"Übrigens ist hier ein ziemlich unkirchliches Volk. Die Kirchen werden von Ostflüchtlingen und Soldaten gefüllt."
Den Buchmarkt verstehe wer will - kaum erschienen, ist der 750 Seiten schwere Wälzer "Die Liebenden" von Gerhard Henschel schon im Modernen Antiquariat für gut 10 Euro zu haben, was dem Verlag, Hoffmann und Campe, und dem Autor sicher wenig Freude bereitet, an der Klasse der Lektüre indes aber wenig ändert. Gerhard Henschel, freier Schriftsteller und Autor, der in Hamburg lebt und vom ewig delirierenden Berufs-MfS-Opfer Vera Lengsfeld (CDU) als "Honecker-Preis-Dichter" 'geehrt' wurde, obwohl er doch niemals einen DDR-Ausweis besaß, hat sich, so scheint es, durch unheimlich viele authentische private Briefe gearbeitet und aus sowie mit ihnen einen Roman gebastelt, der fünf Jahrzehnte der Geschichte einer (oder vielmehr: zweier) deutschen Familie widerspiegelt, die er, Henschel, in Form einer (nun freilich fiktiven) Briefsammlung belletristisch zu dokumentieren sucht. Der erste Brief wird am 21. Februar 1940 abgeschickt, der letzte im September 1993, und damit ist klar, welche weltpolitischen Ereignisse neben den ganz persönlichen Freuden und Tragödien behandelt werden: 2. Weltkrieg, "Flucht vor 'dem Russen'", "Niederlage", Kriegsgefangenschaft, Heimkehr, Wiederaufbau, 'Wirtschaftswunder', Wiedervereinigung. Das Buch ist dabei natürlich kein reguläres Geschichtsbuch, die 'große Politik' wird, wie das in privater Korrespondenz sicher nicht unüblich ist, eher nebenbei erwähnt und kommentiert, viel wichtiger sind den zahlreichen Familienmitgliedern ihre ganz persönlichen Befindlichkeiten, wobei es Henschel überzeugend gelingt, seinen Figuren ein Gesicht, einen Charakter zu geben - und auch die Entwicklung der Figuren über die Jahrzehnte wird anschaulich nachgezeichnet. Ingeborg Lüttjes, Jahrgang 1929, etwa, die sich, kinderlandverschickt, kindlich-naiv um Gummistiefel und Weihnachtsgeschenke sorgt, während der Krieg gar nichts stattzufinden scheint, wird erwachsen, arbeitet als Übersetzerin, wird Mutter, Großmutter - und stirbt im November 1989. Oder auch Richard Schlosser, Jahrgang 1927, der als Flakhelfer begeistert für Führer, Volk und Vaterland kämpft, von der HJ indes aber wenig wissen will - es verschlägt ihn zunächst in die "Ostzone" (Cottbus), wo er es aber nicht lange aushält, holt im Westen die Schule nach und entwickelt sich zum typischen (?) deutschen Michel, der mit Versicherungen leidenschaftlich über geringste Geldbeträge streitet. Mit seinem Ableben 1993 endet der Roman dann auch, der aber dennoch ein Lesegenuß ist, da es das Talent Henschel vermag, mit den Briefen und Dokumenten eine Geschichte zu erzählen, die plausibel ist und Privates hervorragend in den zeitgeschichtlichen Kontext einbettet - eine Soap-Opera der Extraklasse und zugleich ein halbes Jahrhundert (west-) deutscher Geschichte zum Anfassen, die nicht nur ein ideales Geschenk darstellt, sondern auch zum Selberlesen einlädt. Gerhard Henschel - Die Liebenden, Hoffmann und Campe 2002, gebunden, ISBN 3-455-03170-6, Originalpreis ca. 25 Euro. MfG tw_24 |